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“Für unsere Toten nicht eine Schweigeminute, sondern ein Leben lang Kampf.” – Antigone im Amazonas

Antigone im Amazonas in Wien/Dunaj/Beč. Foto: David Baltzer/Festwochen

“Nichts ist ungeheurer als der Mensch, der die Wälder mit Maschinen, Energie und Feuer auf seiner gierigen Suche nach Gold und Erzen abholzt, der die Energie der Flüsse in Staudämmen auffängt, der die Kinder der Wälder dazu zwingt, ihre Heimat zu vergessen, der die Gebiete, in denen ihre Vorfahren einst lebten, als Privateigentum bezeichnet.”

Die Bühne des Burgtheaters ist von einer Schicht roter Erde bedeckt. Sie ist lose, wogt im Raum, weicht den Schritten und Körpern der Schauspieler:innen und umhüllt diese. Es ist die Erde, die den Grund des Dramas bildet, die Erde, um die es in all ihren Formen geht. Das Theaterstück, welches Milo Rau für die Festwochen nach Wien/Beč/Dunaj bringt, ist eine radikale Absage an die dickwanstige österreichische Kultur. Man scheut sich beinahe “Antigone im Amazonas” als Schauspiel zu bezeichnen, verwischt es doch alle Grenzen, die der Bon ton zwischen Leben und Kunst errichtet. Die Tragödie vollzieht sich in und außerhalb des Theaters, agiert in sicherer Ohnmacht. Die letzte Freiheit, die dem Menschen bleibt, ist die andere Möglichkeit.

DIE LANDLOSEN

Antigone eröffnet drei Ebenen – die der Erzählung, die der Tragödie Sophokles und die des Vergangenen im Jetzt, des auf die Leinwände projizierten Amazonas in Wien. Die Schauspieler:innen sitzen in Klappsesseln beieinander, einer von ihnen spielt auf der Gitarre, ein anderer schlägt den Rhythmus. Es sind ihrer nur vier in Wien/Beč/Dunaj, denn andere konnten ihre Familie nicht verlassen, besitzen keinen Pass oder konnten ihre Pflichten bei der MST nicht vernachlässigen

Die MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra/Bewegung der Landarbeiter ohne Boden) ist nämlich ein wichtiger Partner, wenn nicht gar die führende Hand des Projektes. Sie ist eine über 1,2 Millionen Personen starke soziale Bewegung, die in Brasilien für Land, eine Agrarreform und sozialen Wandel kämpft. Die wichtigsten Organisationsprinzipien sind u.a. die kollektive Führung, Aufgabenteilung, geschlechtergerechte Zusammensetzung von Gruppen, Weiterbildung, Kritik und Selbstkritik. Durch Besetzungen von Land, das seine soziale Funktion nicht erfüllt, versuchen sie die schon lange ausstehende Landreform zu bewirken. Aktuell leben rund 100.000 landlose Bäuerinnen:Bauern in besetzten Lagern und 450.000 Familien in Siedlungen der MST.

Die ersten Landbesetzungen, aus denen die MST hervorging, fanden in den 1970er Jahren statt und wurden von landlosen Bäuerinnen:Bauern initiiert, die ihre Grundstücke zugunsten der Kaingang (eines indigenen Volkes im Süden Brasiliens) verlassen hatten. Denn die Grundlage, auf der sich die MST bildete, war die Einforderung der historischen Gerechtigkeit und des Rechtes auf Land für die indigenen Völker Brasiliens. Douglas Estevam, MST-Aktivist, schreibt: “Die indigenen Völker, die von ihrem Land vertrieben wurden, die versklavten Menschen, die 350 Jahre lang mit Schiffen aus Afrika den Ozean überquerten, die Tausende von verarmten Männer und Frauen, die aus Europa nach Brasilien flohen: Gemeinsam bilden diese Völker und Geschichten die Landlosen.”[1]

DIE S-KURVE IN ELDORADO DO CARAJÁS

Die anwesenden Schauspieler:innen erzählen vom Beginn der Arbeit am Stück, vom Jahre 2018, als der rechtsextreme Schub Brasilien verrückte und Jair Bolsonaro bewaffnet durchs Land wütete, Ansprachen haltend, in denen er versprach, die Landlosen auszulöschen, die indigenen Reservate und die Quilombola-Gemeinden, die von nicht-indigenen Nachkommen der versklavten Bevölkerung gebildeten Gemeinschaften, zu beseitigen. “Eine Schande” sei es, meinte er “dass die brasilianische Kavallerie nicht so effektiv war wie die Amerikaner, die ihre Indianer ausgerottet haben”.[2] Für diese Rede wählte Jair Bolsonaro den Schauplatz eines der größten Massaker an Bäuerinnen:Bauern, das in Brasilien stattfand. Es handelt sich um eine Straße in der Stadt Eldorado do Carajás, welche quer durch den Bundesstaat Pará verläuft und wichtig für die Agrarproduktion und Mineralienabbau der Region ist. El Dorado, der kolonialistische Mythos von der Stadt des Goldes, im realen Pará gelegen, der Region mit den größten Agrarkonflikten und Umweltzerstörungen im Amazonasgebiet.

Am 17.4.1996 demonstrieren Vetreter:innen des MST für die Übergabe einer Farm aus privater Hand, welche die MST mit fast 3000 Familien besetzt hatte. Die Polizei erhielt den Befehl die Straße “um jeden Preis”[3] zu räumen und erschoss 19 Bäuerinnen:Bauern, viele auf kurze Distanz. Zwei weitere starben im Krankenhaus. Von den 155 Tätern des Massakers wurden bis auf zwei alle freigesprochen.

Die Erinnerung an das Eldorado do Carajás Massaker belebt Antigone. “Man sagte mir, ich sehe aus wie er,” meint Frederico Araujo. Er spricht vom einem der Anführer der Demonstration, einem jungen Mann, der vor den Augen seiner Mitstreiter:innen von der Polizei gefoltert und erschossen wurde. Er sehe aus wie er und darum spielt er ihn in der Reinszenierung des Massakers.

Die drei Stränge verflechten sich.

Auf der Straße durch Pará demonstrieren am Jahrestag des Massakers die Schauspieler:innen und der Chor der Aktivist:innen und Überlebenden erneut für das Recht der Landlosen.

 “Ocupar, produzir, resistir!”, rufen sie.

Und erneut erscheint an der S-Kurve der Straße die Polizei.

Und erneut weichen die Aktivst:innen nicht.

Und erneut stellt sich der Mann, von dem man sagt, Federico sehe ihm ähnlich, vor das Haus, in dem sich die Mütter und Kinder verstecken.

Und erneut foltern ihn die Polizisten, ziehen ihn an den Haaren durch die staubende Erde und erschießen ihn.

Und erneut ziehen die Täter ungestraft fort, verfließen im Blaulicht des Bühnenprojektors.

Von der Bühne erhebt sich der Sand, bedeckt das Publikum, als Federico gezerrt, geschlagen, getötet wird.

Antigones Bruder ist tot.

Douglas Estevam schreibt: “Für unsere Toten nicht eine Schweigeminute, sondern ein ganzes Leben lang Kampf.”[4]

(K)EIN VERBRECHEN

Kreon, verkörpert von der niederländischen Schauspielerin Sara De Bosschere, befiehlt, dass man Polyneikes, den ermordeten Neffen, nicht begraben dürfe. Er befiehlt von der Bühne des Burgtheater, dem Chor der Aktivist:innen und Überlebenden in Brasilien. Und schon wird Antigone, die indigene Aktivistin Kay Sara, auf den Schirm gezerrt und die Wache beginnt zu berichten, wie man ein Verbrechen ausübend fand.

Polyneikes liegt auf der trockenen Erde, die Sonne brennt unerbittlich vom Himmel, die Geier und Fliegen umkreisen seinen Leichnam. Durch die stehende Luft summt, wie das Schlagen von Zikadenbeinen, ein Lied.

Was für ein Segen: Das allerletzte Gebet mit den eigenen Worten zu Gott zu sprechen. Jedes Körnchen Erde auf dem Körper ist Licht.

Während die Wachen sich im Schatten laben, wirft sich Antigone auf den verfallenen Körper des Bruders, trauernd, klagend. Mit bloßen Händen greift sie in die Erde, mit den Fingernägeln kratzt sie den Staub vom rissigen Boden und streut ihn über den Leichnam.

Was für ein Segen: Das allerletzte Gebet mit den eigenen Worten zu Gott zu sprechen. Jedes Körnchen Erde auf dem Körper ist Licht.

Ihre Klagen werden lauter, von Klagerufen, zu Rufen, zu Schreien. Immer ungehaltener entreißt sie dem Boden Erde, gräbt Polyneikes eigenhändig sein Grab.

Was für ein Segen: Das allerletzte Gebet mit den eigenen Worten zu Gott zu sprechen. Jedes Körnchen Erde auf dem Körper ist Licht.

Antigone langt nach dem Körper des Bruders und zerrt ihn schreiend zum Grab. Und ihr Schreien nimmt Form an, sie dreht sich um und brüllt: “Hört auf mich zu filmen!” und wirft den Bruder in die Erde.

Jedes Körnchen Erde auf dem Körper ist Licht.

500 JAHRE APOKALYPSE

Jedes Jahr verschwinden dutzende brasilianische Aktivist:innen und Umweltschützer:innen oder kommen ums Leben. Sie werden von den Milizen der Besitzer:innen der Monokulturen und den Anhänger:innen des Ex-Präsidenten Bolsonaro ermordet. In Pará, dem Amazonas Staat, finden laut Statistiken die meisten politischen Morde weltweit statt. Bis heute ist über die Hälfte der landwirtschaftlichen Flächen Lateinamerikas in den Händen von einem einzigen Prozent der Bevölkerung.

Seit der Kolonialisierung durch die Portugiesen wütet der Kampf um das Land. Der indigenen Bevölkerung wurden damals Freiheit und Kultur, millionenfach ihr Leben, entrissen. Die Kolonialisierung begann rund um das Jahr 1500. Damals lebten im heutigen Brasilien rund 11 Million Menschen, mehr als 2.000 verschiedene Völker. Innerhalb des ersten Jahrhunderts wurden 90 Prozent der Ursprungsbevölkerung, großteils durch von den Kolonialisten eingeschleppte Krankheiten, ausgelöscht. Durch die Sklaverei der darauffolgenden Jahrunderte starben mehrer Tausende auf Kautschuk- und Zuckerrohr-Plantagen der Siedler:innen. Die indigene Bevölkerung Brasiliens sank durch die anhaltende Gewalt und Unterdrückung bis in die 1950er Jahre auf 100.000 Angehörige. Der Senator und Anthropologe Darcy Ribeiro prophezeite damals, dass bis 1980 alle indigenen Völker ausgestorben sein würden. Doch dann veröffentlichte der Staatsanwalt Jader Figueiredo 1967 einen 7.000-Seiten-starken Bericht über die tausenden an Gewalttaten, die der indigenen Bevölkerung angetan wurden. Dieser sorgte international für Schlagzeilen und bewirkte u.a. die Gründung der FUNAI (der Nationalen Behörde für Indigene). Ab den 1950er Jahren nahmen die Bevölkerungszahlen der indigenen Stämme wieder zu, doch dann begann 1960 die Erschließung des Amazonasgebietes durch das Militär. Durch die Errichtung zahlreicher Staudämme, Bergwerke, Viehzuchtfarmen und Straßen wurden indigene Stämme von ihrem Land vertrieben. Viele Völker wurden für immer ausgelöscht.

In den über 500 Jahren seit dem Beginn der Kolonisation hat die indigene Bevölkerung Brasiliens wiederholt Genozide und den Verlust des größten Teiles ihres Landes erlebt. Heute leben rund 900.000 (Stand Volkszählung 2010) indigene Personen in Brasilien, welche sich noch immer für die formale Anerkennung, den Schutz ihrer Territorien und die seit Jahrhunderten ausstehende Revision des kolonialen Landraubs einsetzen müssen.

Es ist ein Kampf, dessen Auswirkungen weit über die Grenzen der Amazonas hinausgehen – ist doch die Abholzung der Wälder die Hauptursache für Treibhausgasemissionen in Brasilien. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen gesunden Wäldern und indigenen Territorien – wurden doch auf anerkannten Territorien in den Jahren 1985 bis 2020 nur 1,6 Prozent entwaldet. Doch trotz der eingebrochenen Klimakatastrophe billigte am 31.5.2023 das brasilianische Parlament ein Landgesetz, laut dem nur noch Regionen geschützt werden können, in denen indigene Völker seit 1988 leben. Dies bedeutet auch, dass indigene Völker keine Stammesgebiete mehr zurückbekommen können, aus denen sie vor 1988 vertrieben wurden. Des Weiteren können Personen, die aufgrund von Restitutionsmaßnahmen gestohlenes Land zurück an Indigene geben mussten, Anspruch auf Entschädigung anmelden. Auch würde das Gesetz Dritten Zugang zu Gebieten ermöglichen, in welchen isolierte indigene Völker leben. Die linke Regierung kritisiert den Beschluss als “Instrument zum Völkermord”. Nun muss der Text nun noch vom Senat bestätigt werden, bevor er Präsiden Luiz Inácio Lula da Silva vorgelegt wird, der noch sein Veto einlegen kann (Stand 20.6.2023).

Tage davor tritt Amazonas im Burgtheater der Seher Teiresias auf, welcher von einem indigenen Philosophen gespielt wird. Dieser erklärt, er sorge sich nicht um die indigenen Menschen, denn diese hätten in den letzten 500 Jahren die Apokalypse immer und immer wieder erlebt. Nein, er sorge sich um die Weißen, die sich nun das erste Mal vor dem Abgrund finden.

I AM HAIMON

Antigones Verlobter Haimon, der Niederländer Arne De Tremerie, Abkömmling der einstigen kolonialen Großmacht, erzählt davon, wie Kay Sara das Ensemble zu einem befreundeten indigenen Stamm mitgenommen hat. Man tauschte ein Lied gegen eine Szene und die Theatergruppe wählten die Konfrontation zwischen Kreon und seinem Sohn. Antigone, die Tochter ihres Volkes, wird dafür bewundert, das Familienrecht, das göttliche Gesetz, in Ehre zu halten. Doch Kreon ehrt nur sein Recht, das Recht des Herrschers, unter welchem er Antigone als sein Eigentum betrachtet und somit das alleinige Recht beansprucht, über dieses Eigentum entscheiden zu dürfen. Haimon widerspricht seinem Vater und wendet sich von ihm ab. Das brasilianische Publikum applaudiert.

Der niederländische Haimon berichtet, wie nervös er war, sich unter seine Gastgeber:innen zu bewegen. Die Ehre, hier sein zu dürfen, hätte die Angst verstärkt, etwas falsch zu machen. Und er sing: “I am Haimon, I am a prince.” Doch die Menschen hätten ihn unbefangen aufgenommen, über seine Tollpatschigkeit gelacht. “Im Wald wird man als Aktivist geboren”, sagt man ihm. Und de Tremerie meint, er hätte nie verstanden, warum Haimon sich Antigones Kampf nicht vollkommen anschließt. Hier stand er nun im Amazonas, mit all diesem europäischen B/Palast und diesen Schuldgefühlen und dennoch wurde er willkommen geheißen, fühlte sich verbunden mit den indigenen Aktivist:innen.

Haimon ruft dem projizierten Urwald entgegen: “Ich spürte für einen Moment, dass es auch mein Kampf sein könnte, und…”

Kay Sara lacht, “Sie verstehen noch nicht einmal, was du sagst.“

I am Haimon, I am a prince, the son of a king.

Europa, das Königshaus – noch immer schöpft es die Güter seiner ehemaligen Kolonien. Auf gewaltigen Monokulturen werden von Großkonzernen, die die Landwirtschaft von der Aussaat bis zum Verkauf kontrollieren, Soja, Mais, Palmöl hergestellt. Aus diesen werden dann Produkte hergestellt, die in Verpackungen mit Wiedererkennungswert in unseren Regalen landen. Doch der europäische Mensch, er meidet seine Schuld und will sie nicht beim Wocheneinkauf geiseln, will sich keine Menschenrechtsverletzungen aufs Morgenbrot schmieren. Das wissen die besorgten Großkonzerne natürlich und in väterlich-fürsörglicher Manier klatschen sie gras- bis olivgrüne Siegelchen auf ihre Produkte. Ferrero, Nestlé, Pepsico, Kelogg´s, Mars, Danone usw. – alles Klassenprimae der Nachhaltigkeit, über und über mit grünen Auszeichnungen bedeckt! Doch diese smaragdenen Medaillen wurden von der Agrarindustrie für die Agrarindustrie geschaffen. Man betrachte: Eines der dreistesten Beispiele neoliberalen Greenwashings! Agropalma, ein Palmölkonzern, welcher all den oben genannten Konzernen zuliefert, verdankt seine Monokulturen kolonialen Raub und unrechtmäßiger Aneignung staatlicher Landflächen sowie der Vertreibung indigener Kleinbäuerinnen:bauern. Er ist mit 10 internationalen Siegeln für biologischen, fairen und nachhaltigen Anbau zertifiziert. Brasilianische Anwält:innen und internationale NGOs berichten des weiteren über Klagen der Bevölkerung über Menschenrechtsverletzungen, Gewalt und unmögliche Arbeitsbedingungen auf den versiegelten Plantagen.

LEBENDIGE ERINNERUNGEN

Antigone wird lebendig in einer Grabkammer eingesperrt, lebendig in die Erde verschlossen. Der Gestaltenwandler Federico – Bruder, Wache, und jetzt, Antigone, – steht auf der Bühne während vier Feuer um ihn brennen. Die Luft ist erfüllt von Erde und Rauch und Antigone in Wien und Antigone im Amazonas sterben an der Welt.

Und auch Haimon stirbt.

Und auch Eurydike stirbt.

Und Kreon – ein lebender Toter.

Es verbleibt der Chor. Der Chor der Aktivist:innen und Überlebenden. Der Chor ist eine einzelne Figur, weil er eine kollektive Bewegung ist, er spricht und singt und agiert mit einer Stimme, einem Geist.

Der Chor, die Schauspieler:innen, reinszenieren das Massaker an dessen Jahrestag. Sie rufen, mit einer Stimme, begehen einen Weg. Als sie zur S-Kurve kommen, sehen sie sich einem Mob Polizisten entgegenstehen. Man hat ihnen einfach so, aus fahrender Willkür, die Genehmigung zur Sperrung der Straße verweigert. Es bahnt sich an, ein “und erneut…und erneut..”. Doch eine der Aktivist:innen tritt hervor, spricht mit der Polizei: “Diese Inszenierung ist für alle Leute, diese Inszenierung ist für euch!” und die Bewilligung wird erteilt. Ein Machtspiel der Regierenden, keine Frage, doch die Aufführung kann stattfinden. Die Polizisten sehen zu, wie Wiedergänger ihrer Kollegen die Demonstrant:innen zu Boden stoßen und festhalten, sie schlagen und treten, wie der Kommandant den Schießbefehl gibt und wie den aufgereihten Bäuerinnen:Bauern in Stirn und Nacken geschossen wird.

Dona Maria, eine Überlebende des Massakers, sagt, dass “wir unseren Toten gedenken, um uns selbst am Leben zu erhalten, um Kraft für den Kampf um unsere Zukunft zu schöpfen. Es lähmt uns nicht, sondern treibt uns an.”[5]

Darum stehen die Ermordeten der Reinszenierung wieder auf, klopfen sich die Erde von den Knien und gehen weiter, als lebendige Erinnerungen.


WENN DIE WELT ENDET

“Fügt man dem portugiesischen Wort `resitstir´ ein X bei, so wird daraus `re – x- istir´. Es ist ein Wortspiel, dass darauf hinweist, dass man im Widerstand neue Arten des Lebens entwirft. All dies ist verbunden – das Inszenieren eines Stückes, um für eine neue Art der Landwirtschaft kämpfen, das Ehren der Toten, um für ein Ende des Mordens zu wünschen. Wenn wir über die Zukunft nachdenken, so denken wir nicht nur an den spezifischen Kampf Einzelner, sondern wir imaginieren eine neue Form der Gesellschaft. Wir werden immer den Preis dafür zahlen müssen, was wir bisher getan haben. Aber wenn die Welt endet, so ist es besser, dass sie mit dem endet, dass wir uns noch vorstellen können, wie es hätte sein können.” – Pablo Casella, Erzähler in Antigone.


[1] Douglas Estevam (2023): „ANTIGONE IM AMAZONAS, GEGEN DAS UNGEHEUR MENSCH.   Die Produktion aus der Sicht von MST“. Wiener Festwochen: Wien. S. 6.

[2] Fiona Watson (2018): “`Kein Milimeter´ für Indigene: Ungewisse Zukunft unter Bolsonaro“ https://www.derstandard.at/consent/tcf/story/2000090484726/kein-millimeter-fuer-indigene-ungewisse-zukunft-unter-bolsonaro (Zugriff: 1.6.2023).

[3] Amnesty International (2006): „Brazil: The Eldorado dos Carajás massacre 10 years on” https://www.amnesty.org/es/wp-content/uploads/2021/08/amr190192006en.pdf (Zugriff: 1.6.2023).

[4] Estevam (2023): „ANTIGONE IM AMAZONAS, GEGEN DAS UNGEHEUR MENSCH“. S.5.

[5] Estevam (2023): „ANTIGONE IM AMAZONAS, GEGEN DAS UNGEHEUR MENSCH“. S. 6.

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