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Wie man Sprachen reanimiert

Wien, Hietzing, an einem frostigen Mittwochmorgen. Das Café füllt sich langsam, der Kaffee leert sich langsam. Ö1-Redakteurin Ute Maurnböck-Mosser hat ihren Arbeitsschwerpunkt vom Funkhaus in der Argentinierstraße auf den Küniglberg ins neue Ö1-Haus verlagert. Der öffentlich-rechtliche Radiosender hat 2022 auffallend viele sprachenbezogene Sendungen und Beiträge produziert, einen Großteil davon hat Maurnböck-Mosser gestaltet. Die Germanistin erzählt im Gespräch mit NOVI GLAS über das Jahr der Sprachen auf Ö1, was es braucht, um Sprachen zu retten, und warum sich Herr:Frau Österreicher:in viel mehr nach Osteuropa ausrichten sollte – wie früher einmal.

Ute Maurnböck-Mosser: Ich bin es nicht gewohnt, interviewt zu werden. 

NOVI GLAS: Sie können ja einmal anfangen, mir den Sprachschwerpunkt auf Ö1 zu erklären.

UM: Ich bin letztes Jahr (2021, Anm.) zum Ö1-Programmdirektor Martin Bernhofer gegangen und habe ihm gesagt: 2022 beginnt das Jahr der indigenen Sprachen, können wir da nicht etwas dazu machen? Er meinte, das ist logischerweise etwas zu speziell, also das Interesse für indigene Sprachen. Aber das Thema Sprachen wäre an sich gut und mit dem Slogan, dem Motto Sprachen. Vielfalt. Verstehen. haben wir diesen Sprachenschwerpunkt begonnen. Die „Wort.Schätze“ in der Sendung Radiokolleg wurden zu einer Art Sprachviertelstunde beginnend mit der Frage: Kann man tote Sprachen wiederbeleben? Minderheitensprachen waren da das Zweite. Hier war ich auch im Burgenland unterwegs. 

NG: In einer dieser Sprachviertelstunden wurde über das Lateinische gesagt, dass es quasi nur eingefroren worden ist. Wo ist da der Unterschied zwischen toten, größtenteils toten und lebendigen Sprachen?

UM: In Australien gibt es viele Sprachen, die wirklich von der Wurzel unterschiedlich sind. Nicht so wie bei uns die Einteilung in romanische oder slawische Sprachen. In diesen kleineren Communities hat es irgendwann einen letzten Sprecher gegeben und mein Interviewpartner, der hat Interviews mit diesen Leuten gemacht und ihre Sprachen gelernt. Der muss ein Genie sein. Es gibt die Fälle dieser letzten Sprecher und dann gibt es eine ganze Bandbreite von bis. Zum Beispiel Plattdeutsch, was irrsinnig zurückgeht. Ist es vom Aussterben bedroht? Ja, ist es. Beim Burgenlandkroatischen, wenn es in den Familien nicht mehr gesprochen wird, ist es halb vorbei. Denn wie viele Menschen kennen Sie, die mit ihren Freunden und in der Verwandtschaft untereinander Burgenlandkroatisch reden? Ich war in Weiden bei Rechnitz/Bandol in der zweisprachigen Volksschule. Dort hat die Direktorin gesagt, dass es bei einigen Familien eine Rückbesinnung gibt. Die Elternteile sind aus einem burgenlandkroatischen Haushalt, sind aber selbst nicht so aufgewachsen, dass man das innerhalb der Familie spricht und haben nicht mehr die Kompetenz, die Sprache weiterzugeben. Für mich gilt dann die Frage: Was heißt das? Ist es, wie eine naheliegende Fremdsprache erlernen? Statt Alltagssprache nur ein identifikationsstiftendes Merkmal?

NG: Welche Maßnahmen haben Sie im Zuge dieser Recherche ausfindig gemacht, die bei der Revitalisierung geholfen haben? Die gälische Sprache Manx auf der Isle of Man (Königreich, Insel und Steueroase zwischen Wales und Irland, Anm.) haben Sie als ein positives Beispiel vorgestellt.

UM: Das war wirklich super. Da gab es diesen letzten Muttersprachler, der dann doch nicht der letzte war. Die Sprache war scheintot und es gab von Zugezogenen kommend einen Rettungsversuch, der nicht absehbar war. Das sind oft Zufälle und einzelne Arrangements von Leuten, die sich da als große Liebhaber von Manx gesehen und Vereinigungen gegründet haben. Mir hat mein Interviewpartner ganz begeistert geschildert: Er kommt auf die Isle of Man und hört, wie Kinder auf der Straße Manx reden. Das heißt, es ist dann wieder im Alltag integriert und damit ist es keine tote Sprache mehr. Es ist schon gefährdet, weil wie geht es weiter? Aber fürs Erste ist der Tod abgewendet. 

Foto von Konstantin Vlasich
NG: Wenn man sich die österreichischen sprachlichen Minderheiten anschaut, ist es wahrscheinlich das historische Erbe im Vergleich zu Manx, das die Minderheitensprachen unterdrückt – etwa wenn Kärntner Slowen:innen wegen Gebrauchs der Sprache ins Konzentrationslager gekommen sind.

UM: Ja, aber die Kärntner sind heute doch aktiv, ich war bei den slowenischen Studierenden in der Mondscheingasse. Die haben ihre drei Dialekte und sind aufgrund ihrer politischen Gesinnung so stark und eigensinnig. Ich glaube nicht, dass das ausstirbt, weil die jungen Menschen dort tragen das auch weiter und haben es auf der politischen Agenda. Im Burgenlandkroatischen sehe ich das nicht so, oder?

NG: Ich glaub schon, dass wir so ein kleiner Nukleus sind, der verschiedenste Sachen macht. Bei den Kärntner Slowen:innen sieht man das auch ein bisschen konzentrierter, weil die, die im Wiener Exil wohnen, sitzen alle in der Mondscheingasse und schreiben teilweise auch im NOVI GLAS. Bei den Burgenlandkroat:innen muss man in die Dörfer, die sind am Wochenende ja meist nicht in Wien. Auch sind wir bekannt eher untertan zu sein, die Slowen:innen sind und waren immer lauter bei ihren Forderungen.

UM: Ja, bei den Kärntner Slowenen. Bei den Steirischen Slowenen ist es ganz anders. Die wollten keine Brösel. Sie wollten ein ruhiges Miteinander, was auf Kosten der Sprache und Identität gegangen ist. Ich habe bei meiner Recherche wenige gefunden. Es gibt einige Haushalte – so zwei Handvoll, die es noch sprechen. Dann gibt es dieses identitätsstiftende Pavelhaus, wo ein paar Leute aktiv sind. Aber ich befürchte, dort ist es vorbei mit dem Slowenischen in paar Jahrzehnten. 
NG: Was mir bei der Folge Deutsch in Rumänien aufgefallen ist, dass es scheinbar für das Überleben einer Sprache wichtig ist, dass man stur ist und da gibt es lustige Beispiele, dass es in gewissen Dörfern in Rumänien sogar zwei deutschsprachige Dialekte gibt.

UM: Ja, einen deutschen und einen österreichischen. 

NG: Wie groß sind diese Ortschaften?

UM: Ganz klein! Man kann sagen so um 1990, als die Leute dann nach Deutschland gehen konnten, da sind die meisten auf gepackten Koffern gesessen. Jetzt, wenn ich dort hin gehe, gibt es ein paar alte Leute, aber ihre Zukunft hat die jüngere Generation woanders gesehen. 

NG: Finden Sie es schlecht, wenn jemand stur ist, damit seine Sprache weiterleben kann? 

UM: Das kommt darauf an, auf welche Kosten die Sturheit geht. Also im Fall der steirischen Slowenen finde ich es schade, dass sie nicht sturer waren und Rechte, die ihnen zugestanden wären, nicht genutzt haben um des Friedens willen und die Sprache als Privatsache abgetan haben.

NG: Bleiben wir noch bei etwas, was ich sehr spannend fand. In der Schweiz sind sie anerkannt, sie haben eine Zeitung, verwenden statt „telefonieren“ das Wort „weitschmusen“, “Flatterling” ist ein Vogel.

UM: Jenische? 

NG: Genau. Wie haben Sie die Sprecher der Jenischen ausfindig gemacht und wie viel wussten Sie von den Jenischen zuvor? 

UM: Da gibt es einen tollen Roman, Fuchserde, den habe ich gelesen, weil ich Germanistik studiert habe. Jenisch hat mich schon dann sehr interessiert – alles was zu tun hat mit Rotwelsch, Jiddisch und diesen Unterarten. Für die Jenischen ist es eine ganz wichtige Identifikationsgeschichte, daher kämpfen sie dafür, dass ihre Sprache (in Österreich, Anm.) als offizielle Minderheitensprache anerkannt wird. Ob es eine eigene Sprache ist, ist umstritten, weil sie in verschiedenen Gebieten entstanden ist und immer dadurch gekennzeichnet war, dass ihre Sprecher Fahrende waren. Das ist so ein oszillierendes Ding. 

NG: Vielleicht gibt es die im Burgenland auch, aber wir wissen es nicht.
 
UM: Ich glaube schon, dass es dort Jenische zumindest einmal gab. Aber eher verbreitet waren sie im schwäbischen Raum. Sprachlich gibt es einen deutschen Grundwortschatz. Am Nationalfeiertag der Vielsprachigkeit auf Ö1 hat Simone Schönett, eine Schriftstellerin, ein bisschen etwas erzählt. Das kann man eh alles nachklicken. Aber junge Leute sprechen nicht mehr Jenisch.
Foto von Konstantin Vlasich
NG: Am Nationalfeiertag wurde auf Ö1 ja nicht die Rot-Weiß-Rote Fahne geschwungen, sondern Ö1 hat den Tag zum Nationalfeiertag der Vielsprachigkeit erklärt.

UM: Damit wollten wir am Nationalfeiertag sagen: Wir sind ein Land mit unfassbar vielen Sprachen und wir brauchen nicht so tun, als ob Österreich ein deutsches Land wäre. Das sind wir nicht und wir waren es auch nie. Wo war Österreich vor 100 oder 150 Jahren? Es gab immer Migrationsströme von und nach Österreich. Und nicht nur zu sagen, wir haben hier Deutsch und die paar Minderheitensprachen im jeweiligen Bundesland und Englisch, weil es Lingua Franca ist, und dann ist es aus. Auch jenseits der türkischen Community, die es schon lange gibt, oder jenseits der Menschen aus den verschiedenen ex-jugoslawischen Staaten gibt es viel, viel mehr. 

NG: Ich habe mir auch die Presseaussendung zum Tag der Vielsprachigkeit angeschaut und die liest sich wie ein Fiebertraum eines Sprachwissenschafters, weil es so ein schönes Kuddelmuddel ist.

UM: Ich fand es schön, dass man die Leute einfach reflektieren lässt, was in meiner Sprache so besonders ist und wie anders ist das zum Deutschen. Einfach diesen Vergleichswert zu haben. Die Iranerin, die im Persischen nicht "Nachbar" sagt, sondern "der, der im selben Schatten lebt". Das sprachliche Bild ist so wunderschön. Das wird mich für den Rest meines Lebens begleiten. 
 
NG: Wie bekanntlich auch die Burgenlandkroaten kein Wort für Wurstsemmel haben (das kam auch vor, Anm.). Gibt es ein paar, die dieser Feiertag vor den Kopf gestoßen hat?

UM: Ja, es gibt ein paar Schriften an den Hörerservice, wie zum Beispiel, was uns da so einfällt am ÖSTERREICHISCHEN Nationalfeiertag genau das zu machen. Aber das ist ja genau die Idee gewesen.

NG: Und es waren ja das ganze Jahr verschiedene Sprachen zu hören. 

UM: Ja, und ich bin glücklich, dass die Wortschätze auch nächstes Jahr fortgesetzt werden. Da bin ich wieder unterwegs alle drei Monate und das erste Thema wird Sprachpurismus & Sprachpuritanismus sein – also es findet sich immer was. 

NG: Wie oft schauen Sie die Volksgruppen-Programme des ORF? 

UM: Nicht oft. Ich höre oft Ö1, weil ich dort arbeite, aber mir geht so schnell die Zeit aus. Also das Interesse ist schon da. Und ich muss sagen, besonders als ich diese Minderheitensprachsendungen der Wortschätze gemacht habe, da habe ich mir gedacht: Das ist schon super, was für Sendungen es gibt und auch diese Sprachen zu hören. 
NG: Ich schätze, dass Sie über die Minderheitenredaktionen die Interviewpartner:innen bekommen haben? 

UM: Naja, gar nicht so sehr. Es ist eher so, dass man so herumgereicht wird, weil der eine kennt da und dort jemanden und dieser dann andere. Das war nicht schwer, gerade im Burgenland.

NG: Es gibt die regionalen Radios, die Volksgruppensendungen haben, aber bundesweit wird im Radio nichts für die Volksgruppen ausgestrahlt. Glauben Sie, gibt es eine Möglichkeit, dass Ö1 eine Minderheitensendung bekommt? 

UM: Ich glaube das ist gesetzlich geregelt. 

NG: Ist es, ja. Aber Ö1 könnte sagen: Wir machen das einfach!

UM: Ich glaube, die Hörer gibt es nicht, also wir müssten das so aufbereiten, dass für alle was dabei ist. Wenn jetzt um 10.30 am Vormittag jemand ungarisch redet, und ich verstehe kein Wort, was werde ich machen? Nach einer Minute denke ich – ungarisch ist super – aber ich verstehe kein Wort. Wie sollte das ausschauen?

NG: Na vielleicht so wie Ihre Sprachviertelstunde ausschaut.

UM: Das Programm bei Heimat Fremde Heimat oder bei Dobar Dan Hrvati usw. schaut ja so aus, dass es regionale Nachrichten sind, die im Mittelpunkt stehen. Da geht es nicht um die große Weltpolitik. Es geht auch nicht um größer gefasste Themen, Metathemen, wie wir sie im Radiokolleg haben, etwa unlängst der Schwerpunkt zum Thema “Frieden denken”. Wenn ich das jetzt zweisprachig mache – kann ich es mir zwar überlegen, wie das ausschaut – aber die Zielgruppe hört sich ja die Minderheitenprogramme nicht nur an, um die eigene Sprache zu hören, sondern auch um die Nachrichten aus der Region zu hören. 

NG: Aber wenn man das weglässt?

UM: Was habe ich davon, wenn ich nicht Ungarisch kann? Ich kann weder Jenisch noch Burgenlandungarisch, noch Romanes oder Burgenlandroman, noch eine der slowenischen Sprachen, noch Tschechisch, die auch eine Minderheitensprache ist. Was intendiere ich damit?

NG: Ich schließe daraus, dass es ein Sendungskonzept bräuchte, das für alle interessant ist.

UM: Mir fällt momentan nichts ein, aber darüber nachgedacht habe ich auch noch nicht. 
Ute Maurnböck im Kaffeehaus. Foto von Konstantin Vlasich
NG: Haben Sie im Zuge ihrer Recherchen auch gesehen, wie weit Handy-Apps oder Künstliche Intelligenz bei der Sprachrettung behilflich sein können? Ich frag mich das öfter, bin dem aber noch nicht nachgegangen. Vielleicht sind Sie mir schon voraus.

UM: Es gibt sehr viele Initiativen im Internet. Gleich zu Beginn habe ich eine kennengelernt. Bei der “Wie kann man Sprachen wiederbeleben?”-Sendung. Die Sorben zum Beispiel rufen Leute dazu auf, dass sie Sprachproben in Sotra, den Sorbian Translator, hochladen. 

NG: Mich würde interessieren, was man tun muss, damit sich eine App wie Duolingo für Minderheitensprachen interessiert! Wie viele Leute kenne ich, die Norwegisch lernen, weil sie auf einmal den Einfall hatten, sich das über Duolingo anzuschauen. 

UM: Grundsätzlich sehr schade finde ich, dass am Stundenplan nicht Minderheitensprachen oder die Österreich umgebenden Sprachen stehen. Wir alle in der Schule hatten Englisch – und das ist auch gut und wichtig. Aber warum ist es nicht möglich, jetzt kommt mal Ungarisch, Tschechisch oder Slowenisch auf den Stundenplan. Das wird gesprochen in Ländern, wo wir auf Urlaub fahren – man verharrt im Denken an Weltsprachen und gen Westen hin; Tschechisch etwa, das ist auch ein Teil unserer Vergangenheit und hoffen wir auch in Zukunft. Mir ist nicht einsichtig, warum wir die Grenzen, die Sprachgrenzen, die es gibt, so dicht machen.

NG: Die EU wäre ja unsere neue Vielvölkerstaatengemeinschaft.

UM: Diese unfassbare Vielfalt in Osteuropa, dass die wieder vor den Vorhang geholt wird. Es sind so viele Leute von uns, unserem jetzigen österreichischen Staat, dorthin in den Osten gegangen, haben dort gelehrt, gelernt, gewirkt. Es hat schon einen Grund gehabt, warum ich eine Sendung mach – Wortschätze: Deutsch in Osteuropa. Da meine ich nicht nur die Minderheiten, die mal dort und dort gesiedelt haben. Deutsch war eine Lingua Franca in vielen Bereichen. Das ist alles völlig tot und abgeschnitten; in den Familien wird es kaum gesprochen. Das transparenter und lebendiger zu machen, und diese Räume wieder neu zu nutzen, ist ein Ziel.

NG: Welche Sprachen, die sie erkundet haben und noch nicht können, würden Sie gerne lernen?

UM: Alle. Da bin ich maßlos. Ich möchte einmal mein verstaubtes Russisch wieder auspacken.

НГ: Конечно.

УММ: Всё забыла.

НГ: Я тоже.


Der Text ist in der NG-Printausgabe 4/2022 erschienen.
Interview: Konstantin Vlasich
Mitarbeit: Marica Zvonarits

Der Ö1-Sprachenschwerpunkt „Sprachen. Vielfalt. Verstehen.“ ist auf Dauer auf oe1.orf.at abrufbar.

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