Als wir von Kärnten/Koroška in die Europäische Kulturhauptstadt 2025 fahren, passieren wir zwei Grenzen. Und dann passieren wir die Grenze wieder. Und wieder. Wir kommen gar nicht heraus aus dem Grenzqueren. Kein Wunder: Denn neben Chemnitz wurden heuer zum ersten Mal gleich zwei Städte gemeinsam zur EKH ernannt: Die italienische Gorizia und die slowenische Nova Gorica.
Gorizia, Nova Gorica, Goriška, Görz…
Die Zusammenarbeit hat historische Gründe. Bis 1947 bildeten Gorizia und Nova Gorica nämlich eine Einheit, welche im deutschsprachigen Raum etwas patschert »Görz« genannt wird. Die Teilung der Stadt und die Gründung der jüngsten Stadt Sloweniens, Nova Gorica, erfolgte erst kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Partisan:innentruppen und Truppen der jugoslawischen Armee befreiten den größeren Teil des von Slowenischsprachigen besiedelten Gebietes und weigerten sich, die als unrechtmäßig empfundene ehemalige Grenze wiedereinzusetzen. Bei der Pariser Friedenskonferenz wurde die Grenze neu bestimmt und dann 1947 gezogen. Sie teilte die Region in zwei Städte: Gorizia und Nova Gorica.
Durch die Grenzziehung blieb das junge Nova Gorica ohne viele Verwaltungs- und Versorgungsdienste sowie Bildungs-, Gesundheits- und Kulturinstitutionen übrig. Die Stadt musste neu gebaut werden. Die Pläne für das Urbanismusprojekt stellte der Architekt Edvard Ravnikar, der Nova Gorica als neues urbanes Zentrum Jugoslawiens konzipierte. Für das Großprojekt kamen unter andere die Mladinske delovne brigade (Jugendarbeitsbrigaden) aus allen Republiken des ehemaligen Jugoslawiens zum Einsatz. Die Brigadier:innen organisierten sich auch auf politischer, kultureller, sportlicher und Bildungsebene. Sie arbeiteten in verschiedenen Arbeitskreisen, organisierten Kurse, unterhielten Chöre, Theater- und Folkloregruppen. Die Bauarbeiten gingen über Jahrzehnte.[1] Der Grenzübergang wurde als Anhängsel des Bahnhofs konzipiert und seit 2007, als Slowenien Teil des Schengenraums wurde, ist er ebenso dekorativ.

This is what you missed on…
Durch die offenen Schengen-Grenzen ist die Anreise schnell bewerkstelligt – auch wenn mit Verspätung und unter dem strengen Blick der Pressebetreuer:innen. Die Parade mit rund 1.000 Künstler:innen und einer fetten Blaskapelle hatten wir schon verpasst. Nur noch ein paar teilkostümierte Folkloretänzer:innen und berittene Instrumentalist:innen mit Capes um die Schultern kamen uns entgegen.
Man konnte im Laufe des Tages Kultur in Stationen genießen. Diese wurden von lokalen Kulturorganisationen betreut und reichten von Jazzkonzerten bis zu unterirdischen Spaziergängen durch die mittelalterlichen Überreste Gorizias. Der gorizianische Stationenbetrieb ist inspiriert von einem Besuch David Bowies im Jahre 1975. Bowie soll die ganze Nacht herumgetrottet sein, hätte sich Notizen gemacht und Melodien gepfiffen. Ein Jahr darauf veröffentlichte er sein Album »From station to station«.[2]
Doch wir hatten ein konkretes Ziel: Mit Stadtplan und Programm ausgestattet, machten wir uns auf den Weg zur offiziellen Eröffnung. Nach kurzer Verirrung (und einem Grenzfehltritt) wurden wir von den italienischen Polizist:innen mit einem firmen »Nessuno può più entrare qui!« abgewiesen. Während uns die verzerrten Klänge einer Politrede entgegenwehten, machten wir uns auf, zu einem alternativen Eingang. Wir staksten die Eisenbahnschienen entlang und gelangten am Rande des Bahnhofs an ein Eisengitter. Aus der Traube Abgewiesener wurden wir dann von einem Polizisten herausgepickt – die Presseausweise als Ticket zum Capitol.
Eine Grenze, die keine ist?
Am Trg Evrope/Piazza Transalpina, jenem Platz, der sich sowohl in Italien als auch in Slowenien befindet, landeten wir anstatt auf der Tribüne mit unseren Medienkolleg:innen praktisch hinter der Bühne, zwischen den Diplomat:innen und ihren lustigen Schärpchen. Während ich die Rücken der Präsidentin der Republik Slowenien Dr. Nataša Pirc Musar und dem Präsidenten der Republik Italien Sergio Mattarella betrachtete, tauchte meine Kolleg:in unter dem Absperrband hindurch und zwischen den Diplomat:innen wieder auf. Zu einem italienischen Würdenträger gedreht, meinte sie: »Sono cosi piccola!« und wurde prompt in die erste Reihe gelassen. Eine Kärntner Slowenin im Live-Broadcast. Wieso nicht? Schließlich ist der 8. Februar, der Tag der Eröffnung, auch unser slowenischer Kulturfeiertag.
Das große Thema der EKH ist »borderless«. Damit wolle man sowohl die Geschichte der Städte reflektieren, als auch den europäischen Gedanken zelebrieren. Die Beziehung zur Grenze zwischen den Städten und Staaten war stets eine komplexe – zu Zeiten Jugoslawiens diente sie auch dem Schmuggeln von Konsumgütern aus Italien. In Kofferräumen holte man sich vom italienischen Nachbarn das, was man im Sozialismus nicht bekam. Die Italiener:innen wiederum gingen billig nach Nova Gorica essen und sich in den Spielkasinos vergnügen. Noch heute ist die Glücksspielindustrie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor der Region. In Nova Gorica ist schließlich nicht umsonst eines der größten Spielcasinos Europas ansässig.
Pirc Musar bekräftigte die Bedeutung der europäischen Zusammenarbeit – insbesondere im 80. Gedenkjahr des Kriegsendes: »Nova Gorica z roko v roki s sosednjo Gorico prevzema odgovoren naziv Evropske prestolnice kulture kot edinstveno somestje, z zavedanjem svoje preteklosti, predvsem pa z odgovornostjo do naše skupne prihodnosti in generacij naših otrok, ki si zaslužijo mir, svobodo in ustvarjalnost”[3]. Matarella schloss sich in seiner Rede Pirc Musar an und meinte: »”V svetu, ki ga zaznamujejo vse večje napetosti in konflikti ter opuščanje sodelovanja kot temelja mednarodnega življenja, sta Slovenija in Italija pokazali, da je mogoče izbrati pot sodelovanja«[4]. Diese grenzübergreifende Zusammenarbeit wurde im Vorfeld der Eröffnung auch durch die Verleihung der höchsten Auszeichnung Italiens, Großkreuz mit Großer Ordenskette, an Pirc Musar geehrt.[5] All is well im italo-slowenischen Film – oder? Nicht ganz.


Mussolini – Ehrenmann Gorizias?
Im Vorfeld des Jahres der EKH sorgte besonders ein Bürger, pardon Ehrenbürger, Gorizias für Aufsehen: der faschistische Diktator Benito Mussolini. Mussolini versuchte zu Lebzeiten Italien zu einem ethnisch homogenen Staat zu machen und assimilierte, ermordete und vertrieb zu diesem Zwecke nationale Minderheiten. Ab 1918 wurden slowenische und kroatische Schulen geschlossen, kulturelle und soziale Organisationen aufgelöst, die Zeitungen geschlossen und Familiennamen italianisiert. Die Ehrenbürgerschaft hat Mussolini seit 1924 inne und er behält sie, laut einem Beschluss vom 11.11.2024, weiterhin. Der Bürgermeister von Gorizia, ein selbstbezeichneter Antifaschist und Parteimitglied des Mitte-rechts-Lagers »Forza Italia«, sprach sich gegen die Aberkennung aus, da er sie als »„Versuch der Linken“ sehe, welche „den Weg des großen Zusammenhalts und der Zusammenarbeit zwischen Nova Gorica und Gorizia im Hinblick auf die Kulturhauptstadt Europas im nächsten Jahr zu untergraben«[6] suche. Die slowenische Minderheit in Italien und das Außenministerium Sloweniens kritisierten das Vorgehen Gorizias. Jedoch bleibt die Tatsache bestehen, dass Mussolini auch in einigen hundert weiteren italienischen Gemeinde gern gesehen bleibt.[7] Aber als Österreicher:innen sind wir sowas ja gewohnt – allein in Wien/Dunaj/Beč hat eine Historiker:innenkomission 170 Straßennamen als belastet eingestuft.[8]
Zurück zur großen Freundschaft
Also: Während meine Kollegin also den besten Sitz am staatsgeteilten Platz genoss, rauschten hunderte Kinder in türkisen Regenmänteln vorbei. (Für ÖVP geplagte Österreicher:innen ein kleiner Schock.) Mit dem ganzen Pathos der italienischen Oper und der slowenischen Schrägheit traten die Sänger:innen Boris Benko und Tish auf die kreisrunde Bühne. Umflankt von der Polizeiblaskapelle sangen sie die Hymne der EKH »Insieme/Skupno«, während der Kinderchor sein helles Stimmchen erhob. Als dann ein großer goldener Knopf gedrückt wurde, um den offiziellen Start der Feierlichkeiten zu markieren, lagen sich dann im Konfettiniesel italienische und slowenische Politiker:innen in den Armen. Ein Hauch Bruderkuss in der Luft.
Von der Masse getragen machten wir uns auf den Weg zur zweiten Eröffnung – diesmal in Nova Gorica. Während Gorizia sehr wohl als Kulisse für einen sensibel-hochgestochenen Coming-of-Age Film (siehe: Amis machen internationalen Film) dienen könnte, herrscht in Nova Gorica mehr das Dikat einer realsozialistischen Architektur. Hier sind die Büste Jože Srebrnic (»Delavski voditelj, komunist, narodni heroj«) und ein Strauß Flaggen (die slowenische, europäische und jene der EKH) einander gegenübergestellt.


Dieser Ästhetik entsprechend, fand das zweite große Event des Tages am Trg Edvarda Kardelja statt. Kardelj war einer der führenden jugoslawischen Politiker und Theoretiker. Er verfasste u.a. das Buch “Razvoj slovenskega narodnega vprašanja”, in dem er die Idee vertrat, dass zur Lösung der “slowenischen Nationalfrage” die Zusammenarbeit mit anderen fortschrittlichen Kräften notwendig sei. Weiters glaubte er, dass alle in einem Staat lebenden Volksgruppen (“vsi narodi”) die völlige Freiheit haben sollten, alle ihre Eigenschaften zu entwickeln und zu entfalten. [9] Österreich, was bei dir los?
Würstel und Champagner und Taubengezwitscher
Bei Tovariš Edi angekommen, konnten wir uns anderem widmen: Dem Essen. Entlang der engen Gassen der Nova-goriška Innenstadt hatte man Standln mit weißen Zeltdächern aufgestellt. Die Besucher:innen manövrierten mit schwappenden Tellern voll Kranjskih klobas mit Senf, Golaž, Enolončica, Jota und Wildragout von lokalen Wirtsbetrieben durch das Gedränge. Viel Fleisch, viel Fisch, wenig handliche Gerichte also.
Wir folgten einem Kamerateam durch den Eingang für Ehrengäste und Presse, drängelten uns so vor die slowenisch-italienische Prominenz. Während die Smetana auf der Tribüne Prosecco ausgeschenkt bekam (und einige Journalist:innen bei den Kellner:innen schleimten, um auch ein Glas abzubekommen), machten wir uns auf einer Treppe gemütlich, die den ganzen Platz überblickte.
Die Bühne war vor dem Nationaltheater aufgebaut und schlug ihre Bahnen durch den ganzen Publikumsraum. Eine Reihe von Scheinwerfern, Projektoren und Bildschirmen ist der Vorbote einer fetten Lightshow. Die Anfangsplaylist muss wohl Angelo Badalamenti erstellt haben, denn sie sorgte für eine düster-mystische Atmosphäre. Kaum läuteten die Glocken 18 Uhr schossen Lichtstrahlen in den Abendhimmel und die in die Fassade des Theaters gesetzten Monitore zeigten das Naturschauspiel der Region. Von den Strömen der Soča/des Isonzo umspült trat der Ministerpräsident Sloweniens, Robert Golob, vor die Versammlung.
Golob betonte in seiner mehrsprachigen Rede die Bedeutung der Zusammenarbeit der Städte und Staaten im europäischen Kontext: „Two cities, two nations, one capital. Due città, due nazioni, una capitale. Dve mesti, dva naroda, ena prestolnica.” Golob sprach davon, dass das verbindende Element die Idee von Europa, die Idee von Freiheit, Frieden, Freundschaft und Gleichberechtigung, ist. Aus der von den Italiener:innen, Slowen:innen, Furlaner:innen usw. bewohnten Region wolle Golob eine gemeinsame Botschaft in die Welt tragen: „Sporočilo se začne: Nikoli več! Nikoli več sovraštva, nikoli več izključevanja, nikoli več hujskanja naroda proti narodu ali brata proti bratu. Sporočilo, ki temelji na skupnih evropskih sanjah.«[10] Besonders vor dem Hintegrund der Geschichte des letzten Jahrhunderts, so Golob, sollen die ehemals verfeindeten und nun verschwisterten Städte Gorizia und Nova Gorica für ganz Europa ein Vorbild der Zusammenarbeit und Verbundenheit sein.
Künstleriše Bombastik
Nach Golobs Auftritt betrat der beste Mann die Bühne: In ein trachtenähnliches Gewand und Hut gekleidet, stolzierte er bis ans Ende der Bühne und ließ einen schneidenden Pfiff auf das Publikum los. Präsentiert wurde uns die Neanderthalpfeife! Das wahrscheinlich älteste Instrument der Welt wurde in der Höhle Divje Babe gefunden. Dieser Auftakt ging in das künstlerische Programm über, welches eine Symbiose aus »Hochkunst« und Rave darstellte. Während zwei befreundete Pianovirtuosen (Alexander Gadjiev und Giuseppe Guarrera) aus Gorizia und Nova Gorica sich auf zwei Flügeln anklimperten, formten die Tanzgruppe MN Dance Company gemeinsam mit Tänzer:innen von Branko Potočan einen zappelten Organismus, der die ganze Bühne bespielte. Aus den Fenstern des benachbarten Hochhauses schrien Schauspieler:innen kryptische mehrsprachige Halbsätze und dann »Europa!«. Wie auf ein Signal bestrahlten drei Suchscheinwerfer das gegenüberliegende Haus und drei Akrobat:innen wanderten an Seilen befestigt die Fassade herunter. Während des Auftrittes der Pop-Rock-Band MRFY schaltete sich eine gut fünfzehnmetergroße Projektion des Laibach-Frontmannes Milan Fras ein, welche in Grabesstimme verkündete: »Kdor ne skače, ni Slovenc.«[11] Daraufhin trat ein Opernquartett auf die Bühne, welches gemeinsam mit dem Opernchor Borderless und dem Symphonieorchester des RTV Slovenija erneut »Insieme/Skupno« anstimmten. So versöhnlich hätte die Eröffnungsfeier enden können, doch dann stürmten über hundert Kurenti, sagenhafte Gestalten aus Ptuj, welche böse Mächte vertreiben und gute Zeiten ins Land rufen sollen, die Bühne. Der Tanz der Kurenti, unterlegt von den Techno-Beats der DJ Brina Knauss, beschwor endgültig das neue Jahr der EKH in Gorizia und Nova Gorica herauf. Konfetti und Feuerwerk waren die Ergebnisse.
Während der Rave am Trg Edvarda Kardelja bis spät in die Nacht ging, machten wir uns zurück auf den Weg. Aber eins ist sicher – die Grenzen nach Gorizia/Nova Gorica würden wir im Jahr der EKH wieder überqueren, und wieder, und wieder…



Reportaža: David Bowie
… oder doch: Ana Grilc. Erstveröffentlichung in unserem Printmagazin NG1/2025
[1] Vgl. Ložič, Miloš. O.D. Zgodovina Nove Gorice. https://www.novagorica-ks.si/zanimivosti/2015052614094241/Zgodovina%20Nove%20Gorice/ [Zugriff: 12.2.2025].
[2] Vgl. Mesta občina Nova Gorica in Občina Gorica. 2020. Go! Borderless. Kandidatura za Evropsko prestolnico kulture. Nova Gorica: A-media.
[3] „Nova Gorica nimmt den verantwortungsvollen Titel der Kulturhauptstadt Europas gemeinsam mit dem benachbarten Gorizia an, als ein einzigartiger Ballungsraum, der sich seiner Vergangenheit bewusst ist, aber vor allem Verantwortung für unsere gemeinsame Zukunft und die Generationen unserer Kinder trägt, die Frieden, Freiheit und Kreativität verdienen.“
[4] „In einer Welt, die von zunehmenden Spannungen und Konflikten und der Aufgabe der Zusammenarbeit als Eckpfeiler des internationalen Lebens geprägt ist, haben Slowenien und Italien gezeigt, dass es möglich ist, den Weg der Zusammenarbeit zu wählen.“ Da. La. 2025. Pirc Musar in Mattarella poudarila zgodovinskost EKH-ja za obe mesti in državi. https://www.rtvslo.si/slovenija/pirc-musar-in-mattarella-poudarila-zgodovinskost-EKH-ja-za-obe-mesti-in-drzavi/735982 [Zugriff: 12.2.2025].
[5] Ebd.
[6] Schmidt, Hatto. 2025. Diktator Mussolini Ehrenbürger in Kulturhauptstadt 2025. https://www.nordschleswiger.dk/de/international/diktator-mussolini-ist-ehrenbuerger-europas-kulturhauptstadt-2025 [Zugriff 12.2.2025].
[7] Vgl. Ebd.
[8] Vgl. Stadt Wien. O.D. Zusatztafel für historisch belastete Straßennamen. https://www.wien.gv.at/kultur-freizeit/zusatztafeln-strassenamen.html [Zugriff: 12.2.2025].
[9] Novagoricaart. O.D. Edvard Kardelj. https://www.novagoricaart.si/osebnost/edvard-kardelj/ [Zugriff 20.2.205].
[10] »Die Botschaft beginnt: Nie wieder! Nie wieder Hass, nie wieder Ausgrenzung, nie wieder Hetze eines Volkes gegen das andere oder eines Bruders gegen den anderen. Die Botschaft, welche auf den gemeinsamen europäischen Träumen beruht.«
[11] „Wer nicht springt, ist kein Slowene.“