Sinti:zze und Rom:nja in Berlin erdenken sich ein Museum.
Am Abend vor unserer Abreise, treffen wir uns mit meinem Onkel in einer Bar beim Museumsquartier. Er ist gerade auf Besuch beim Burgenländer Künstler Martin Grandits gewesen und zeigt uns Fotos von seinem neuen Bild. Der Titel: „God hates Germany“. Am nächsten Morgen brechen wir Richtung Berlin auf.
Wahlkampfradio im Ohr, brettert das Auto mit VL-Kennzeichen durch die Häuserschluchten. Wir umrunden das Brandenburger Tor, biegen zweimal links beim Bundestag ab und schlittern durch den Schwarm wahnsinniger Radfahrender (ohne eine:n einzige:n zu überfahren!). Und dann glänzt uns die Fassade des ERIAC entgegen. Bereits durch die Fensterfronten sieht man Ecken und Kanten einzelner Kunstwerke. Drinnen wird Musik gespielt, fürs ungeübte Ohr etwas zwischen Jazz-Klassik-Easy-Listening. Die Räume sind hoch, luftig, weiß, das Bürokonzept im hinteren Bereich ist offen, Teeküche und Seminarraum gibt es auch. Ein Volksgruppenträumchen, würden sich die Minderheitler:innen in Österreich denken. Wir werden von Radu Sticlea empfangen. Bei Filterkaffee tauscht man sich aus – Verkehr, NGOs, KSlos, österreichische Punschkrapfenmentalität (und warum das in Berlin ganz anders verstanden wird) und die MANIFESTA 15. Das Team von ERIAC ist nämlich gerade in Barcelona, um die Vorbereitungen für eine Zusammenarbeit zu treffen. Ein großer Erfolg für die noch recht junge Organisation.
Die Alliance for the European Roma Institute for Arts and Culture, oder kurz ERIAC, wurde nämlich 2017 gegründet. Dafür war nötig, dass sich der Council of Europe, die Open Society Foundations und die Roma Leaders´initiative auf einen Haufen warfen. ERIAC arbeitet auf transnationaler, europäischer Ebene und hat sich der Anerkennung der Kunst und Kultur der Sinti:zze und Rom:nja verschrieben. Die Organisation will das Selbstbewusstsein der Community erhöhen und Vorurteile seitens der Mehrheitsbevölkerung abbauen. Zwischen Kunst, Kultur und Bildungsauftrag oszillierend, fördert die Organisation Künstler:innen aus der Community, schafft einen Raum für den kreativen Austausch und versucht gleichzeitig die historischen Erfahrungen der Sinti:zze und Rom:nja in Europa zu dokumentieren. Die oftmals vergessene Bedeutung und der Einfluss der Kunst und Kultur der Community soll auch endlich bei den europäischen Institutionen, politischen Entscheidungsträger:innen und Interessensvertreter:innen ankommen.
Die Tragkraft von Symbolen
Kunst und Kultur sind wichtige Werkzeuge der Selbstemanzipierung von Minderheiten. Schon beim ersten Welt Roma Kongress 1971 wurden die gemeinsame Flagge und Hymne der Community bestimmt. Ästhetiken und Symbole sind eng an den Widerstand und den Kampf für die Rechte der Minderheit geknüpft. Künstler:innen und Kulturarbeiter:innen aus der Community schaffen mit ihren Arbeiten auch Gegenbilder zu jenen der weißen, europäischen Imagination. (Bizet und Disney lassen grüßen).
Im ERIAC selbst werden gerade Arbeiten von drei Künstler:innen ausgestellt – nämlich im RomaMoMA . Oder eigentlich nicht im RomaMoMA. Denn es gibt kein Roma Museum für moderne Kunst. Aber was, wenn es das gäbe? Diese Frage stellt sich das Projekt RomaMoMa. Der Fokus des Projekt liegt hierbei nicht darauf, eine neue Museumsinstitution zu schaffen, sondern in der Konzeption dessen. Es schafft einen reisenden, gleichzeitig realen und imaginierten Raum, in dem ein kollektiver, kreativer und kritischer Diskurs stattfinden kann. RomaMoMA organisert Ausstellungen, Filmvorstellungen, Workshops und Performances. Sein Material: die zeitgenössische Gesellschaft.
Radu führt uns in das flatternde Museum und erklärt, dass die aktuelle Ausstellung »CARGO – of Dust and Ashes« den 80. Jahrestag des Porajmos reflektiert. Sie verbindet drei künstlerische Positionen von Rom:nja, Sinti:zze und Travellers aus verschiedenen Ländern. Benannt ist die Ausstellung nach der Arbeit der Künstlerin Lila Loisse: Ein Heuballen, welcher in eine Tapete gewickelt ist, auf dem die Mutter und Großmutter Loisses zu sehen sind. Der Heuballen lässt sich wie ein Rucksack tragen, wie Kargo, wie Frachtgut, und erinnert an die Erfahrungen die Loisses Großmutter machte, als sie sich u.a. auf einem Bauernhof vor den Nazis versteckte.
Die Ausstellung reflektiert die Last, welche die Nachkommen von Überlebenden und Opfern des Holocaust tragen müssen und versucht einen Raum für das gemeinsame Erinnern zu schaffen. Wir lesen im Ausstellungstext: »[I]ncreasingly the descendants of victims, third and forth generations have begun to speak out, unveiling the cataclysmic memories of their ancestors and channeling them into an obligation to create.« Und kreieren, das tun sie.
Radu weist uns auf weitere Werke Lila Loisses hin: Ein riesiges Guess-Who-Spiel, bestehend aus den Verwandten der Künstlerin, und einen Toaster mit bedruckten Brotscheiben. Das erste Werk bezieht sich darauf, dass in der Tradition der Rom:nja und Sinti:zze, die Verwendung von Nachnamen erst in den letzten Jahrhunderten üblich wurde. Früher hatten Vornamen eine weitaus wichtigere Bedeutung für Individuen. Die Arbeit »A Slice of White Bread« wiederum zeigt das Porträt von Loisses Großmutter auf Toasts. Im Versteck versorgten die Landarbeiter:innen Loisses Großmutter mit der lebensrettenden Scheibe Brot und so wurde diese ein Zeichen der Einheit und Unterstützung zwischen den Verfolgten und den Bauern:Bäurinnen während des 2. Weltkrieges im Werk ihrer Enkelin. Obwohl das Brot mit einem Kunstoff-Lack versiegelt ist, verändert es sich mit der Zeit, erzählt uns Radu.
Wir werden zu einem kleinen Bild im Eingangsbereich gelotzt. »This changes too. The artist, Charly Bechaimont, purposely puts it at a sunny place, so the picture begins to fade.« Das Foto zeigt Bechaimonts Familie, das Verbleichen zeigt den Errosionsprozess ungeschützer kultureller Geschichte.
Die westliche Wand wird von einer großformatigen Fotografie der Künstlerin Anita Horváth eingenommen. Vor weitem, blauem Himmel hält eine junge Frau mit freiem Oberkörper ein besticktes Tuch in die Höhe. Je nach Blickwinkel, verschwimmt die Geste irgendwo zwischen Abwendung und Widerstand. Horváth setzt sich in ihrer Arbeit mit den Komplexitäten der Existenz von Romnja auseinander. Die Serie »You Are Not Like Them« reflektiert Sätze, die die Künstlerin selbst sowie andere Romnja und Sintizze immer wieder im Alltag hören.
Radu erzählt, dass im ERIAC immer wieder Künstler:innen ausstellen. Auch Robert Gabris, der gerade prominent im Wiener MUMOK vertreten ist, war hier schon zu Besuch. Im Gespräch kommen wir schnell auf Ceija Stojka zu sprechen. Das ERIAC wartet gerade gespannt auf ein Bild von der Kunstikone. Radu zeigt uns einen Katalog Ceijas. Das EIRAC hat nämlich eine kleine Bibliothek, die voll mit Büchern über Kunst, Kultur und Sprache ist. Bei letzteren bleiben wir noch hängen. (Typisch!) Ganz im Sinne des Bildungsauftrages, hat sich ERIAC auch der Bewahrung, Vermittlung und Entwicklung des Romanes angenommen. Dafür hat die Organisation die Romani Language Initiative »Romani Čhib« gestartet. Die Initiative möchte eine Sprachreform sowie eine Standardisierung des Romanes erreichen. Unterrichtsmaterialien, Teacher-training, ein Online-Wörterbuch für Englisch-Romanes und standardisierte Lehrmethoden stehen weiters auf dem Plan des ERIAC. Die Lehrbücher für das A1 und das A2 Niveau sind bereits publiziert worden. Radu zeigt uns ein paar Lektionen und bemerkt lachend, dass die Leute vom ERIAC immer wieder als Models zu sehen sind.
Trotz des glatten Lehrbuches, wirft bereits das Haček im »Čhib« Fragen auf. (Im HÖR-Romanes-Kurs hätten wir es mit einem »ch« geschrieben.) Tatsächlich stößen die Standardisierungsbestrebungen innerhalb der Community immer wieder auf Kritik. Das Romanes hat nach einer Definition von »Idiom« und »Sprache« zwei, nach anderen wiederum zwischen 30 und 50 Dialekte. Darum gibt es Sorgen, dass durch eine Standardisierung die Idiome Schaden erleiden könnten. Eine Diskussion, wie wir sie auch bei den korošk:e Sloven:ke und gradišćansk:e Hrvat:ice kennen.
Wir schlürfen unseren Kaffee aus, machen die Bücher zu, tauschen E-Mail-Adressen aus. Radu schenkt uns noch Sticker, Ceijas Sonnenblumen nachempfunden. Wieder im Auto, sind wir uns einig: God may hate Germany, but Austria loves RomaMoMA.