1. Bei Željko im Bus
Es ist so weit. Ich sitze in einem Kleinbus. Wir sind zu fünfzehnt oder sechzehnt. Und wir fahren in Željkos Bus die Balkanroute hinunter.
Die Balkanroute – dieser ominöse Ort, mit dem man in Österreich Wahlkämpfe gewinnen kann. Der Trampelpfad in ein vermeintlich besseres Leben. Wer war schon dort? An diesem unsäglichen Ort, einem Unort, ganz unbenannt. Niemand trägt einen Namen, der diesen Weg bestritten hat. „Balkanroute” sagt man schnell mal. Aber wer kann tatsächlich jemanden benennen, der ihn bestritten, beschritten hat? Ich kann Ihnen Politiker aller Couleur nennen, die schon die Balkanroute im Mund hatten. Wiedergekaut wie Wiesenkraut.
Eine Burger-Filiale in Wien ist Ausgangspunkt dieser Reise. Für Aktivist:innen, Journalist:innen, rechtlichen und seelischen Beistand sowie ehemals Geflüchtete. Kaum eine halbe Stunde unterwegs auf der Balkanroute fährt man vorbei an einer der bekanntesten Sehenswürdigkeiten meines Herkunftslandes, des Burgenlandes, nämlich vorbei am Shopping-Center in Parndorf. Ein beliebtes Ziel ist das unter Reisenden aus asiatischen und arabischen Ländern. Man fährt auf der Autobahn vorbei an den falschen Western-Fassaden dieses Einkaufszentrums der großen Marken, genau da auf diesem Autobahnabschnitt bei Parndorf sind (2015) auf der Ladefläche eines kleinen Kühl-LKWs 71 Flüchtlinge – ineinander verkeilt zu entmenschlichtem Gatsch – verstorben. Wir sind 15, unser Bus ist gleich groß oder größer. Unsere Pässe, unsere Hautfarbe ermöglichen, dass wir aufbrechen auf diese Route ohne allzu große Strapazen. Wir fragen uns: Welche Hautcreme packe ich ein? In welcher Jacke wird mir nicht kalt? Welche Socken wärmen genug? Packen die Kamera und ihr Akku die Kälte – draußen, auf der Balkanroute? Packe ich die Kälte?
Unser Ziel ist ein Friedhof an der bosnisch-serbischen Grenze im Bijeljina (das wiederum Teil der Republika Srpska ist, dem überwiegend serbisch bevölkerten Teil Bosnien und Herzegowinas). Dort werden 41 Gräber geweiht – ihre Grabsteine tragen keine Namen. NN. Es sind Menschen gewesen, die im Grenzfluss Drina ertrunken sind. Kränze sollen dargelegt werden für die an der Grenze Verstorbenen. Ein großer Kranz zum Darlegen am Friedhof in Bosnien kostet 15 Euro. Drei Vereine, denen ich nahestehe und die überwiegend Minderheitenkultur in Österreich pflegen, spenden je einen Kranz.
Ich habe viel Equipment gepackt, Equipment und Fragen. Wie schafft man es, auch die lokale Bevölkerung auf seine Seite zu holen? Schafft man das? Wie geht die Polizei mit Helfer:innen um, die Decken, Tee, warme Mahlzeiten austeilen? Wie geht die Polizei mit jenen um, die bei Tag, bei Nacht die Grenze überschreiten? Wie roh ist die Gewalt? Verliert man den Wunsch weiterzukommen oder bleibt im Schnee nur die eine antreibende Motivation?
Eines weiß ich schon jetzt: Wir verteidigen unsere Festung Europa härter als in jedem Videospiel. Flüchtende nennen das Passieren von Grenzen und das Zurückgedrängt-werden über Grenzen auch „The Game”.
Unser Kleinbus zieht vorbei an ungarischen Schneelandschaften. In den Bäumen der Windgürtel neben der Autobahn könnten Menschen sein – im Game, frierendes Spiel. Ich sitze im Kleinbus, mir wird heiß, weil die Heizung so stark läuft.
2. Hotel Drina, Bijeljina
Drei Stunden später als angedacht kommen wir im Hotel Drina an. Es schneit wie im Märchen. Der Hotelname leuchtet verheißungsvoll in die ruhige Nacht. Die Drina ist nur ein unspektakulärer Fluss, der nach dem Hotel benannt wurde, könnte man meinen. Er wurde zum Grenzfluss zwischen Bosnien und Serbien degradiert. Wir haben größtenteils österreichische (rotweinrote) Pässe, die unsere Zimmertüren mit einer Leichtigkeit öffnen, als wären sie von oben bis unten mit Butter eingeschmiert, und zumindest einen afghanischen Pass – gepaart mit einem österreichischen Reisedokument (in einem schlichten Grau gehalten; es soll wohl nicht allzu sehr zu Reisen animieren), befristet auf fünf Jahre.
Ich bin verwundert, mit welcher Journalist:innenbubble ich es plötzlich zu tun habe. Wir essen zerkochte Spaghetti mit veganer Soja-Bolognese – der Balkan passt sich auch hier dem Hipstertum unserer Sorte an – nebenher reden wir über den Wohnungsmarkt in Wien. Dazu gibt es Cockta in 0,2-Liter-Flaschen, weil die könne man auch vorm Trinken schlafengehen (oder umgekehrt), sie enthalte nämlich kein Koffein und sei eindeutig die bessere Cola. Die Journalist:innenbubble besteht aus einem reichweitenstarken Instagram-Menschen und dessen Assistentin, einer Journalistin einer Tageszeitung und mir. Sie haben allesamt jugoslawische Roots (alle müssen irgendwo verortet werden), die meisten bosnische); und ich – ein Relikt aus monarchischen Zeiten – bin ein burgenländischer Kroate.
Was heißt das? Ich könnte zum üblichen Referat ausholen: Vor 500 Jahren dürften meine Vorfahren angesiedelt worden sein (die sind auch über die Balkanroute gekommen!), 400 Jahre ging es hin und her zwischen Österreich und Ungarn, bis man seit 1921 auf dem Gebiet des heutigen Österreich gelandet ist und langsam vor sich hin assimiliert. Es steht wohl das letzte Jahrhundert für meine Muttersprache an (die Überschneidung mit der Klimakrise ist da irgendwie erleichternd, weil uns ohnehin der Untergang droht). Die burgenländischen Kroat:innen haben jedoch mehr Rechte als die zugewanderten Gastarbeiter:innen und ihre Kinder – zwei Medaillen, keine Seite. Dafür haben sie unter Umständen Häuser am Meer aus dem Kommunismus (danke, Oma); im Burgenland müssen sich die “Wossakrowodn” mit ihrer verwässerten Sprache mit dem Neusiedlersee und seinen umliegenden Lacken begnügen, denen in heißen Jahren das Wasser ausgeht. Ich freue mich drauf, wenn wir die “Wüstenkroaten” sein werden.
Die anderen zahlen ihr Wasser und die Cockta, gehen schlafen, ich zahle mein Wasser nicht und gehe an den nächsten Tisch.
Bei den Aktivist:innen im bosnischen Hotel wird geraucht, als wäre es plötzlich gesund. Man kann die Luft sehen wie in guten alten Zeiten. Wer hier nicht raucht, ist eindeutig Modernisierungsverlierer. Die meisten an diesem Tisch – abgesehen vom Gründer der Organisation SOS Balkanroute, Petar, und seinem Helfer im bosnischen Bihać, Asim – sprechen kein Bosnisch/Kroatisch/Serbisch/Montenegrinisch … es ist eher Wienerisch-Oberösterreichisch. Nach ein bisschen Hineinhorchen habe ich verstanden, mit wem ich es ungefähr zu tun habe. Eine ehemalige Leiterin – über Jahrzehnte – eines Wiener Theaters, ganz unscheinbar, ist jetzt zuständig für das Lager der NGO in Wien, sie ist auch zuständig für die Rauchschwaden von links. Die Rauchschwaden von rechts kommen von einer „Oma gegen rechts” – sie hat buntes Haar, wie ein Regenbogen, eine auffällige gelbe Brille, blaue, gemachte Fingernägel. En vogue! Die älteren Frauen übertrumpfen sich in Erzählungen aus der (untergegangenen) Theaterwelt, plötzlich kommt ein Thema auf: Die rechte Rauchschwade habe damals im Kindergarten, der sich am Wiener Morzinplatz befand, gesagt, dass ihr Vater dort am Morzinplatz eingesperrt gewesen ist – Warum, hat er denn etwas geklaut?, haben die anderen Kinder gefragt, – Nein, weil die Nazis Trotteln waren. Na, nicht ganz so Trotteln. Der Herr ist nicht nur Jude und also Arzt gewesen – nein, er war auch der führende Arzt in Wien, wenn es um Geschlechtskrankheiten ging. Und da dürften dann alle Nazis vorbeispaziert sein, wenn es sie im Schritt gejuckt hat undsoweiter. Widerstand ist: Syphilis der Nazis nicht heilen! Nach einer Nacht, als ihn die Nazis aus dem Gestapo-Gefängnis im ehemaligen Hotel Metropol enthaftet hatten, ist er am nächsten Tag unauffindbar gewesen – und bei einem ehemaligen Kommunistenfreund irgendwo am Land untergekommen, der ihn drei Jahre im Weinkeller hat hausen lassen.
Draußen fällt dicker Schnee auf die Aufschriften im lateinischen Alphabet und die Aufschriften in der Ćirilica. Es fällt Schnee auf die Wahlplakate, die die serbischen Wähler:innen aufrufen, wählen zu gehen (für den serbischen Politiker mit der unfassbar dicken Lippe). Mein Hotelzimmer verlautbart die angebliche Temperatur von 22 Grad, ich drehe die Heizung ab. Wasche mir mit einer in Frankreich gekauften grünen Seife das Gesicht vom Rauch frei (Irrsinn, ich werde nicht rauchfrei sein bis Österreich) und tippe meine Erinnerungen an das Abendessen ins Notizprogramm. Dabei suche ich eine halbe Stunde danach, wie ich auf dem Tablet umstellen kann, dass mir Zeichen statt Wörter angezeigt werden.
3. Friedhöfe der Namenlosen
Ich ertappe mich dabei, wie ich auf der weichen Erde eines frischen Grabs herumstapfe.
Wir sind auf dem schneebedeckten Friedhof in Bijeljina, an seinem Rand stehen Gräber mit dem NN darauf. Zwei davon sind mit einem schwarzen Tuch verhüllt. Ich tänzle mit Kamerastativ und Kamera um die Dutzenden, die gekommen sind. Die Reden gedämpft, aber unverhohlen. Es bleibt musiklos. Ein Trauerakt ohne auflösendes Moment. Ein Geflüchteter spricht vom ertrunkenen Bruder, nur ein paar wenige Worte kommen ihm über die Lippen. Dann werden die schwarzen Tücher entfernt, vor den zwei enthüllten Denkmaltafeln in Grabsteinform legt man Kränze nieder. Die Kränze, die ich im Namen verschiedener Vereine bestellt habe, kann ich selbst nicht einmal ablegen. Ich muss filmen. Wie alle Kameras in diesem Moment filmen müssen. Sind es mehr Kameras als Trauernde? Vor jedes NN-Grab wird eine weiße Rose gelegt. Optisch mitteilsam, euer Tod.
Ich führe Interviews, stammle Fragen in die sonnige Kälte. Etwa an Nihad, er gehört zu diesen selbstlosen Menschen, die sich für eine gewisse Art von Menschenwürde an der europäischen Außengrenze einsetzen. „Ich arbeite für keine Organisation, sondern ich lebe Solidarität.“ Soll heißen, er versorgt neben seinem Beruf als Accountant Flüchtende, hilft mit Informationen, hilft bei der Suche nach Ertrunkenen. Im Interview erklärt er, dass er sich offene Grenzen wünscht. Und wir sollen bloß nicht glauben, dass es dieser oder jener Fluss gewesen sei, der diese Menschen umgebracht habe – das war schon die europäische Grenzpolitik. Sein Ton ist gesetzt, er redet schnell, das Äußere gestriegelt. „Sie haben sich von den Versprechungen der Europäischen Union leiten lassen und nun haben sie ihre Leben hier in der Drina gelassen. (…) Wir reden hier übrigens nur von Menschen, die das Wasser angespült hat. Die das Wasser dem Land zurückgegeben hat. Wenn wir sie schon nicht retten konnten, dann können wir zumindest dafür sorgen, dass ihre Angehörigen wissen, was hier passiert ist.“ Obwohl der örtliche Pathologist DNA aus den Knochen der vom Wasser aufgedunsenen Verschollenen viel länger aufbewahrt als er gesetzlich müsste, bleibt bei Leichen ohne Papiere die Identifikation ein schwieriges und teures Unterfangen. Wenn sich doch nur ein Geld fände … hat denn niemand ein Geld?
Nenad von der freiwilligen Bergwacht in Bijeljina zieht die Leichen der Verstorbenen aus dem Fluß. 50 an der Zahl waren es wohl in den letzten sechs Jahren. Einmal hat er sich nicht ans Protokoll gehalten, weil er einen Leichnam nicht bergen konnte, er ist ihm ins Wasser nachgesprungen und hat sich mit ihm flussabwärts treiben lassen bis zu einer Stelle, wo man besser rauskonnte.
Nach den Spießrutenläufen aller Kameras verlangt eine Konferenz verschiedener NGOs zurück im Hotel Drina unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich kann sie nicht aufbringen, bin noch zu zerstreut. Gehe noch mal raus an die frische Luft. Wie absurd ist es, dass das Hotel, in dem wir alle untergebracht sind, so heißt wie der Tatort dieser – unter Anführungszeichen – Verunglückung, dieses Hoppalas unserer tödlichen Ignoranz, dieses vollkommen unbeeinflussbaren Prozesses. Und ich kann einen Gedanken nicht unterdrücken, eigentlich einen Ohrwurm, der sich tiefer und tiefer in meinen Gehörgang bohrt. Während The Eagles über ihr Hotel California singen:
You can check out any time you like, but you can never leave.
Sie haben wohl die Drina gemeint. Beim Essen saß ich am Tisch mit dem Bruder eines in der Drina Ertrunkenen. Nijad heißt er, Jovid hieß sein Bruder. Deren Nationalität usbekisch? Nein, afghanisch. Nijad hat in Bosnien um Asyl angesucht hat und lebt mehr recht als schlecht in Sarajevo. Er würde gerne am Bau arbeiten, finde aber keine Arbeit. Bosnien werde er dennoch nicht verlassen: „I want to stay with my brother.“ Ich filme die Anschrift des Hotels unter blauem Himmel: Hotel Drina. Wieder drängen sich The Eagles auf. Und dann übernimmt das Gitarrensolo.
4. Weiße Rosen
Die Geschichte mit den Friedhöfen der Namenlosen setzt sich fort. Ich will sie nicht weitererzählen. Aber ich muss. Noch ein Friedhof, diesmal in Zvornik. Es ist glatt, und wenn wir nicht die erste Etappe mit dem Bus über einen Schleichweg hochgefahren wären, hätte uns wohl eine unliebsame Eisrutsche von der Bergstation des Friedhofs wieder hinunter verfrachtet. Wir steigen ganz empor wie mit Steigeisen. Das letzte Eck des Friedhofs. Da werden die NNs ihre letzte Ruhe unter Schnee finden. Noch mehr Grabsteine. Statt NN diesmal HHs – hier steht man mehr aufs Kyrilische (nein, nicht auf Hitler). Auf Kyrillisch ist ein H ein N und das kann man schon vor sich hertragen, wenn man auch am Grab auf sein Serbentum verweisen will. Zumindest eine Frau gibt es unter den identifizierten Ertrunkenen. Das Land, aus dem sie aufgebrochen ist: Burundi. Grabsteine, unter denen ein weiblicher Leichnam begraben wurde, ziert ein Z für žena. Diese Frau trägt die Nummer 2018 16 – sie ist die sechzehnte namenlose Tote im Jahr 2018, die am Friedhof in Zvornik begraben wurde. Ihre Gräber werden nicht so tief gegraben wie die der Ortsbevölkerung. Die mehrheitlich serbische Bevölkerung hier geht auch davon aus, dass es überwiegend muslimische Menschen sind, die ertrinken. Nihad klopft ein Stück Holz frei von Schnee. Dann wirft er das Holzkreuz, das provisorisch als Grabstein gedient hat und durch einen ordentlichen Grabstein ersetzt wurde, zurück ins Gestrüpp.
Vom Gipfel des Friedhofs, auf dem das Gestrüpp anzeigt, dass hier keine Menschen begraben liegen, sieht man gut hinunter auf die Drina, die sich durchs Tal schlängelt, am anderen Ufer liegt Serbien.
Wir stehen Stausee-bedingt am relativ beruhigten Wasser der Drina. Vom Minarett der Ortschaft Vidić senkt sich Gesang herab in die Gehörgänge. Die Organisatoren des Gedenkevents wissen nicht, wer den Muezzin beauftragt hat zu singen. Es seien jedenfalls für traurige Anlässe bestimmte Verse. Die menschliche Traube steht am Ufer neben einem Pizzarestaurant. Mahdi und der Fotograf Murtaza hören zum ersten Mal seit ihrer Flucht nach Österreich die Rufe eines Muezzins. Man spürt die Rührung durch die Reihen. Für die älteren bosnischen Frauen, die ich im Laufe dieses Tages kennenlerne, ist Trauer nichts Neues. Auch das Identifizieren von Körpern ist ihnen geläufig. Sie haben schon alles gesehen, alles gefühlt. Weil ihre Männer, ihre Söhne im Bosnien-Krieg gefallen sind, weil ihre Söhne im Zuge eines Genozids verscharrt, vielleicht nie gefunden wurden. Wenn dann halbstarke, verlorene Männer ihre Dörfer queren, sehen die Frauen etwas an ihnen, was ihnen vor Langem abhandengekommen ist. Oder sind es Erinnerungen an die eigenen Kinder, die jetzt in Deutschland leben, sich dort abrackern und die Mütter in Häusern mit zu viel Essen in der Speis zurückgelassen haben. Ich höre von einer Frau mittleren Alters, die einen Mann aus Bangladesh bei sich zu Hause hat wohnen lassen. Ihn wieder aufgepäppelt hat, bis er stark genug war für das Game. Ein anderer, der in der EU bleiben durfte, hat seine bosnische (Pflege-)“Mutter” eingeladen, bei seiner Hochzeit in Frankreich dabei zu sein. Oder Ifeta, die ihre 500-Bosnische-Mark-Pension überwiegend dafür ausgibt, um Menschen auf der Flucht zu versorgen. Sie fühle sich reich, sagt sie. Ihr Reichtum im Leben, das seien die Menschen in ihrem Umkreis.
Das bessere Europa liegt vor deinen Grenzen, Europa. Deine europäischen Werte sind in Wahrheit bosnische Werte.
Die Menschentraube wirft weiße Rosen in den stillen Fluß. Die Rosen ziehen an Schwänen und Enten vorbei. Ein ruhiges Grab mit ruhenden Vögeln und Rosenblättern; sie bemühen sich nicht, für Olympiagold um die Wette zu schwimmen. Ich will das ins Wasser Planschen der Rosen einfangen, aber die ZDF-Kamera steigt mir ständig ins Bild.
5. Bihaćer Ewigkeit
Der Grenzraum ist ein rechtsfreier Raum. Sagen wir es auf wie ein Gedicht.
Ich werde in Bosnien keinen Friedhof mehr betreten, sondern nur mehr das Feld.
Fünf langsam dunkel werdende Autostunden haben ihre Zielschlaufe in einem Canyon, an dessen Ende man in Bihać rauskommt. Bihać ist eine Eckstadt, an der sich die kroatische Grenze um einen bosnischen Zipfel schmiegt. Früher waren die Parks in Bihać voller Menschen, die auf der Balkanroute waren; Menschen im Wald, in so-genannten wilden Camps. Bihać liegt an der Una. Einem – im Vergleich zur Drina – wilden Fluss, der unablässig vor sich hin rauscht. So stelle ich mir unberührte Natur in Kanada vor.
Etwa die Hälfte der illegal in die EU Einreisenden kommt über die Westbalkanroute. Die wirklich Verzweifelten versuchen es über das Gebirge nach Kroatien. Da dürfte die Polizei nicht so präsent sein, dafür gibt es dort Bären. Oder sie versuchen es bei Velika Kladuša oder bei Šturlić über hügeliges Terrain aus BIH hinüber nach HRV. Alles Orte, die wir mit dem Bus besuchen. Von der Straße aus sieht man in einiger Entfernung ein Objekt, ein großes Zelt, das die kroatische Grenzpolizei auf einem Hügel auf ihrer Seite aufgestellt hat. Da sammeln sie die Migranten ein, die den Übertritt gewagt haben und erwischt wurden. Pferchen sie zusammen. Oftmals waren sie schon weit auf das Territorium der Europäischen Union vorgedrungen, vielleicht nach Tagesmärschen sogar bis nach Slowenien. Und dann werden sie eingesammelt, ohne dass ihnen die Chance geboten wird, um Asyl anzusuchen. Rückeingepfercht da ins Zelt am Hügel, dessen Fuß Bosnien ist. Dann werden sie im Schutz der späten Nacht zurückgepusht. Zurück über die Grenze, oft zurück durchs Wasser. Nicht ohne ihnen zuvor die Telefone abzunehmen oder zu zerstören, ihnen Rucksäcke, Geld, sogar die Schuhe wegzunehmen. Viele Flüchtende schildern mir diese Erfahrung. Was die kroatische Polizei mit diesen Gegenständen macht, steht zur Interpretation frei.
Und dann landen die Zurückgepushten da vor uns. Eine Gruppe junger Männer aus Marokko war die letzte, die mir begegnet ist. Zu fünft, vielleicht am schlimmsten dran von allen, zitternd und apathisch. In der Nähe von Velika Kladuša haben sie die Winternacht in nasser Kleidung draußen vor einer Moschee verbracht. Als ob es in der Nähe des Gotteshauses wärmer wäre. Zumindest verjagt einen von dort niemand. Die lokalen Flüchtlingshelfer sind digital untereinander verbandelt und alle sind für etwas anderes zuständig. Während das Rote Kreuz medizinisch Erstversorgung leisten kann, gibt es Sachspenden von SOS Balkanroute. Sie ins Flüchtlingslager Lipa bringen, darf man als Flüchtlingshelfer nicht. Dafür könnte man ins Gefängnis kommen. Doch die International Organisation for Migration, IOM, die das Lager betreibt, das ausschließlich von der EU finanziert ist, kommt heute Nachmittag nicht mehr vorbei. Was machen wir mit fünf schon dermaßen schlecht Beieinanderseienden, wenn der Bus, der fürs Einsammeln zuständig wäre, nicht mehr kommen wird? Noch eine Nacht da draußen könnte allerschlimmste Folgen haben.
40 Minuten über Bihać, abgelegen von jeglicher Zivilisation nur über eine unebene Straße zugänglich, liegt das Flüchtlingscamp Lipa. Eineinhalb Autostunden entfernt von dieser Moschee bei Velika Kladuša. Offiziell darf es 1.200 Menschen fassen, in diesen klirrend kalten Nächten im Januar sind es 1.600. Dort sind nur Männer untergebracht, die nicht mehr minderjährig sind. Mit einer Kamera soll ich mich nicht nähern. Malou, eine Freiwillige des Jesuit Refugee Service, macht hier gerade ihr Freiwilliges Soziales Jahr und ist mehrere Tage die Woche im abgeschiedenen Camp Lipa. Sie erzählt, dass der Großteil schon versucht habe über die Grenze zu kommen, die meisten bräuchten dafür fünf bis sechs Versuche. Der durchschnittliche Aufenthalt in Lipa liegt bei 21 Tagen. Weil Präsident Vučić in Serbien vor den Wahlen alle Flüchtlingscamps schließen hat lassen, sind viele Geflüchtete weiter nach Bosnien. Besonders im Dezember 2023 war das Camp überbelegt – teilweise hausten zehn Menschen in einem Container, der für sechs vorgesehen war. Bevor ich den ersten Tag im Feld verbringen durfte, kam die Nachricht aus dem Camp, dass es einen Mord gegeben hatte.
Dass das Camp aus Containern besteht, ist eine Besserung. Bis Ende 2020 waren es große Zelte, unter denen der kalte Wind durchpfiff wie ein Philharmoniker beim Putzen seiner Flöte. Es kam zu einem Feuer in Lipa, mit dem wohl schlimmsten Winter als Folge. Dann gab es die Idee, ein Internierungslager für Geflüchtete zu bauen mit haftähnlichen Bedingungen. Nach einem Prozess wurde dieser von einer Firma des ehemaligen österreichischen Vizekanzlers geplante Internierungsblock abgeblasen – man darf seit dem Prozess vom österreichischen Guantanamo an der Außengrenze der EU sprechen.
In Lipa können Geflüchtete einander in einem dafür ausgestatteten Container die Haare schneiden, um ein bisschen etwas zu tun zu haben oder sich zumindest fresh zu fühlen. Viele waren daheim Friseure oder Barbiere. Die Helferin sagt, sie habe selten so viele Menschen in der Hoffnungslosigkeit gesehen. Alle hätten sie gemein, dass ihr Überlebenswille stärker sei als der Wunsch, in ihre Heimatländer zurückzugehen.
Da den Migranten häufig während der Flucht das Geld ausgeht, tappen einige in die Falle der Kriminalität. Also sind es oft selbst Flüchtlinge, die zu Schleusern werden und Leute über die Grenze bringen. Ob das die Chancen steigert, sei dahingestellt.
Dreimal am Tag wird in Lipa Essen verteilt. Es dürfte nicht genug sein. Beim Verteilen der Sachspenden vorm Lager merkt man: Alles ist existenziell. Menschen laufen aus dem Lager auf den Van mit den Spenden zu. Es gibt Weißbrot und Thunfischdosen, später noch Jacken oder Schuhe. Man spürt die Anspannung, leer auszugehen. Gewalt ist diesem System inhärent. Wenn die Schlange zu lang ist, wird die Operation unkontrollierbar und abgebrochen.
Wer Liebe sät, wird Zugvögel ernten. Wer Gewalt sät, wird einen großen Feuerball ernten. So versuchen wir die Integration. Zuerst sollt ihr euch nachts über unsere Grenzen schleichen, über die wir euch zurückprügeln. Ptica selica neka nikamor ne leti.
Der Grenzraum ist ein rechtsfreier Raum. Sagen wir es auf wie ein Gedicht.
Gleichzeitig werden Flüchtlinge an den Grenzen kriminalisiert und nicht die Polizei.
Und dann bitten wir euch Zugvögel den rot-weiß-roten Wertekompass zu tragen – Gewalt ist keine Lösung, nicht Frauen schlagen, nicht den Sohnemann schlagen, wenn der schlechte Noten nach Hause bringt … sich insgesamt aufgeklärt und woke benehmen. Keine Gewalt anwenden. Und das Einzige, was ihr gesehen und gespürt habt, ist die volle Härte der Balkanroute.
Bevor die Nacht über Velika Kladuša hereinbricht, einigen wir uns auf eine Lösung. Wir können die fünf Marrokaner nicht mitnehmen. Wir können sie auch nicht draußen schlafen lassen und organisieren daher ein Taxi, das sie abholen kommt. Der Taxifahrer will das Geld vorab. 150 Euro für den Weg von Velika Kladuša nach Lipa. Das Einzige, was an der EU-Außengrenze wirklich funktioniert, ist das Taxibusiness. Es floriert. In Bihać sind alle Taxikonzessionen vergeben und es sieht fast so aus, als gebe es vorm Lager in Lipa einen expliziten Taxistellplatz.
Die Reise wurde durch ein Artist Mobility Stipendium des Landes Burgenland gestützt. Der Artist hat eine lebensrettende Taxifahrt kofinanziert. Seit im Mai 2024 der europäische Asylpakt GEAS beschlossen wurde, sollen erstmals beschleunigte Asylverfahren an den EU-Außengrenzen eingeführt werden. Asylwerber aus Ländern mit niedrigen Anerkennungsquoten sollen so an ihrer Weiterreise gehindert werden. Es ist davon auszugehen, dass dabei das Lager in Lipa eine zentrale Rolle einnehmen wird.
Reportage und analoge Fotos: Konstantin Vlasich
Text u.a. erschienen in Literatur & Kritik, Ausgabe 585/586, und NG1/2024
Danke an Ana Marwan und Christine Rechberger für Feedback und Lektorat
Najsrdačnija hvala na SOS Balkanroute – Danke für die intensiven Einsichten in eure Arbeit