Es ist fünf Uhr morgens, ich starre mit einem Fernglas in die dunkle Nacht. Aufgrund des Mondscheins ist ein spärlicher, trügerischer Horizont auszumachen, den ich systematisch absuche. Ganz langsam schwenke ich von mittschiffs fast hundertachtzig Grad nach achtern und zurück. Ich halte Ausschau nach einem Flecken anderer Schattierung auf einer riesigen Fläche. Ausschau, wie nach einer Träne im Ozean.
Noch befinden sich nur der wachhabende Offizier und ich auf der Brücke, bis auf die Maschinistin schläft das restliche Schiff. Seit vorgestern befinden wir uns im Einsatzgebiet, doch erst das Wetter heute Nacht versetzt uns in akute Alarmbereitschaft. Meist fahren die seeuntüchtigen Boote mitten in der Nacht los, allerdings nur, wenn das Wetter an der Küste ruhig ist – bei zu viel Wind und Dünung ist ein Ablegen nicht möglich. Noch gefährlicher wird die Überfahrt, wenn vor Ort in Libyen die See harmlos erscheint, in einigen Meilen Entfernung von der Küste die Welle jedoch meterhoch steht.
Gegen sechs Uhr machen wir am Radar ein Echo aus; es ist draußen dunkel, doch es beginnt langsam zu dämmern. Parallel dazu erhalten wir von der Initiative Alarm Phone die Nachricht, dass sich ein Schlauchboot in akuter Seenot befindet – die Koordinaten stimmen mit unserem Echo überein. Das gesamte Schiff wird geweckt, wenig später sehen wir das Schlauchboot auch durch das Fernglas – der Skandal wird sukzessive Wirklichkeit. Zuvor nur ein Blinken auf dem Bildschirm, eine Nachricht über irgendwelche digitalen Kanäle, nun ein winziges Boot in ein einem schier unendlichen Meer, zum Anfassen nahe.
Wenig später stehe ich an der Reling und beobachte unsere Schnellboote beim Abbergen der Menschen. Gleich werden sie bei uns an Deck sitzen, jubeln, weinen, niederfallen, schlafen, essen, trinken, träumen. Krude Realität, die nun vollends einbricht, mir allzu normal erscheint.
Selbiges am Tag darauf, allerdings mit doppelt so vielen Menschen, die auf zwei Schläuchen sitzen, von denen einer bereits Luft verliert. Mitten in der Rettung erscheint die sogenannte libysche Küstenwache am Horizont und nähert sich rasch, einige Menschen fallen ins Wasser. Unsere Schnellbootcrews bleiben ruhig, arbeiten konsequent weiter. Letztlich kommen alle Menschen sicher zu uns an Bord. In den nächsten Stunden folgen weitere Rettungen, teilweise von Holzbooten, die kurz vorm Kentern sind, mit Menschen nicht nur draußen, sondern auch unter Deck.
In der Nacht noch ein Einsatz bei Dunkelheit: gut neunzig Menschen auf einem Holzboot. Obwohl sie sich bereits im maltesischen Zuständigkeitsbereich befinden, verweigern die Behörden jede Hilfe. Auf der Brücke lausche ich dem Telefonat des Kapitäns mit der maltesischen Such- und Rettungszentrale. Ich bekomme Lust, den Hörer ins Meer zu schleudern. Es handle sich hier nicht um einen Notfall. Es werde keine Rettung veranlasst. In anderen Worten: Ja, wir wissen, dass Menschen zu ertrinken drohen. Und?
Unsere Schnellboote stabilisieren die Situation, wir können die Menschen allerdings nicht an Bord nehmen, da bereits 363 Menschen auf engstem Raum an Deck unseres 50 Meter-Schiffes ausharren. Wir transferieren die Menschen in Rettungsinseln und bleiben bei ihnen bis kurz vor den Morgengrauen. Endlich kommt die italienische Küstenwache – wir befinden uns unweit von Lampedusa – und übernimmt die Menschen.

„Ein Handelsschiff ist kein Ort, um einen Menschen zu beerdigen. Darüber sollten sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einig sein. Und doch stehen Menschen auf der schmutzigen Deckfläche eines Handelsschiffes um einen leblosen Körper, um der verstorbenen Person einen möglichst würdigen Abschied zu erweisen. Ein makabres Sinnbild für die widerwärtige Migrationspolitik der EU.
Das Handelsschiff VOS Triton hatte am Wochenende 77 Menschen von einem sinkenden Boot gerettet. In solchen Fällen müssen die zuständigen Seenotrettungsleitstellen eigentlich dafür Sorge tragen, dass den geretteten Menschen und der Besatzung des Schiffes ein sicherer Hafen zugewiesen wird. Dies ist wieder einmal nicht passiert, doch damit nicht genug: Als das Handelsschiff aus der Not heraus eigenständig Lampedusa ansteuerte, durften die Menschen dort weder an Land noch auf ein Quarantäne-Schiff, das direkt vor dem Hafen lag. Stattdessen mussten sie einen weiteren Tag auf dem Schiff mit der verstorbenen Person ausharren, bis ihnen schließlich ein sicherer Hafen in Porto Empedocle, Sizilien, zugewiesen wurde.
Die Geretten der VOS Triton berichten: 8 Menschen starben bereits auf der Überfahrt. Bei der Rettung verloren weitere 33 Menschen ihr Leben. Unter ihnen eine Mutter, deren Neugeborenes nun auf Lampedusa ist.“
Sea-Watch am 24. Februar via Facebook
Die Sprache und Bilder der Seefahrt sind überladen mit Bedeutung, Metaphern und Assoziationen. Den Kurs halten, die Schotten dicht machen, ankern, in den Hafen einlaufen, Leuchtfeuer suchen. Doch auch im Ausnahmezustand des zentralen Mittelmeers entsteht eine überbordende Bildersprache, eine eigentümliche Ästhetik, die über den Moment hinaus auf die Küsten und die dahinter stehenden Zustände verweist.
Menschen liegen ineinander verkeilt am Boden, suchen Wärme unter flatternden Rettungsdecken. Das Schiff schaukelt, der Gang zur Toilette ist mühsam, die Schlangen bei der Essensmittelausgabe lang. Trotz der Rettung und der Erleichterung darüber, ist alles, alles ungewiss. Lediglich das Versprechen, nicht nach Libyen zurückzufahren, können wir geben.
Will ich an Deck von einem Ort zum nächsten, muss ich auf kärgliche Schlafstätten treten, nicht selten erwische ich dabei einen Körperteil, manchmal das Gesicht. Ich trample über zerlumpte Gestalten hinweg. Dazu gibt es keine Alternative. Ich erhasche eine Ahnung davon, wen Fanon mit den Verdammten dieser Erde meint.
Selbst das Bild der Ausschiffung unserer Gäste spricht für sich: Wir liegen an einer Mole innerhalb eines Militärgeländes, direkt vor einem Schrotplatz. Willkommen in Europa. Die Menschen gehen hier von Bord, stehen in der Dunkelheit der Nacht in einer langen Schlange an der Pier und marschieren in Richtung Quarantäneschiff. Über 100 Minderjährige und eine blinde Person müssen noch eine, teilweise zwei Nächte bei uns an Bord ausharren, ehe auch sie vermeintlich gelobtes Land betreten dürfen. Vermutlich säßen sie noch heute bei uns am Achterschiff, hätten wir den Liegeplatz nicht für ein (leeres) Kreuzfahrtschiff räumen müssen. Uns will man nicht und diejenigen, die wir bringen, noch weniger.
Ich denke an Lager, Anstehen, Anstand und Aufstand. Ich frage mich, was Würde bedeutet und finde die Umstände gelinde gesagt skandalös. An Alternativen zu vermag ich nicht zu denken. Sein müsste das alles nicht.
Die tödliche Flucht übers Wasser hält seit Jahren an und wird anhalten. Sämtliche Blockaden ziviler Seenotrettung durch die politischen Autoritäten oder auch alle Schiffe vor Ort werden daran nichts ändern. Menschen ist die Freiheit gegeben, sich ihre Freiheit zu nehmen. Dieses Recht wird täglich eingefordert. Schiffsbrüchige von Schlauchbooten oder aus dem Wasser zu retten, kann keine dauerhafte Lösung sein. Doch solange es keine sicheren Fluchtrouten gibt, keine Bewegungsfreiheit für alle garantiert ist, das Recht zu gehen und zu bleiben verwehrt wird, braucht es eine Überbrückung. Solange Menschen in globalen Ausbeutungsverhältnissen den Ausbruch daraus suchen müssen, wird das Sterben an Europas Außengrenzen weitergehen. Die Überfahrten sind trotz des rauen Wetters im Winter wieder im Stiegen begriffen; seit Jahresbeginn sind laut IOM knapp 200 Menschen im Zentralen Mittelmeer ertrunken oder werden dort vermisst.
Wir haben 363 Menschen an Land gebracht, im besten Wissen, dass deren Reise und Kampf noch lange nicht vorbei ist. Wir bedauern, dass das europäische Asylsystem kein Recht auf Selbstbestimmung einberaumt, Menschen oft in Ländern festgehalten werden, in die sie nie wollten, in denen sie keine Familie oder Netzwerke haben. Was vielen auf See geretteten Menschen in Europa widerfährt, wie es nach der Ausschiffung weitergeht und welche politischen Forderungen daraus erwachsen, ist in diesem sehr lesenswerten Projekt dokumentiert. Hier der Download.
Sowohl unsere ehemaligen Gäste als auch wir befinden uns nun in 14 tägiger Quarantäne. Ich fahre danach nach Hause, um mich zu erholen. Was unsere Gäste machen, steht auf einem anderen Blatt.
Ich sende euch Bestes vom Anker aus Augusta,
Jakob
Einen englischen Bericht unseres Journalisten an Bord findet ihr hier.
Hier ein kurzes Video.
Gute Bilder und Berichte auf Italienisch gibt es hier.
Flaschenpost abgeschickt am 13. März 2021
Jakob Frühmann wuchs im Südburgenland auf und pendelt zwischen ebendort, Wien und der übrigen Welt. Neben seiner Tätigkeit als Lehrer schreibt er Unterschiedliches, fährt gern zur See und engagiert sich seit einigen Jahren bei Sea-Watch. Seine letzten längeren Artikel für Novi Glas sind vor und nach seiner SW-Mission 2020 entstanden.