Recuerda – erinnere dich
Die September-Ausgabe des US-Rockmagazins „Rolling Stone“ kürte eine CD über den chilenischen Liedermacher und Kommunisten Victor Jara zur Platte des Monats: „Even in Exile“. Diese CD ist ein Werk des Sängers der walisischen Rockgruppe „Manic Street Preachers“: James Dean Bradfield. Die CD ist phantastisch, ein chromatischer Hymnus für eine demokratische Welt (statt Trump und Johnson.)
Bradfield feiert das humanistische Vermächtnis Victor Jaras, eines berühmten und großartigen Musikers und Sängers der Sechziger und Siebziger in Chile, dessen Humanismus ihn an die Seite der Unidad Popular-Regierung 1972 in Chile treten und singen ließ. Die Pinochet-Faschisten folterten Victor Jara nach dem Putsch am 11.9.1973 im Stadion von Santiago de Chile mehrere Tage zu Tode. Sie fürchteten seine Ausstrahlung und Kunst wie der Teufel das Weihwasser (ein Vergleich, der nicht hinkt).
Damit erlebt Victor Jara nach 50 Jahren eine weitere Erinnerung, diesmal bei einer der schönsten Rockbands der Gegenwart. „Im ersten Moment wundert man sich vielleicht, warum Bradfield jetzt mit einem Album über den chilenischen Dichter, Musiker und Aktivisten Victor Jara ankommt. Dabei ist es nur konsequent. Ob als Sänger der Manic Street Preachers, als Solokünstler oder schlicht als Mensch: Bradfield ist immer ein Kämpfer für Gerechtigkeit, für eine richtige Aufarbeitung der Weltgeschichte, für die Arbeiterklasse, aber eigentlich einfach für eine bessere Zukunft für alle.“ (Rolling Stone 8/2020). Und Bradfield zog es zu Victor Jara, weil „seine Musik zwar politisch motiviert war, aber keine polemische Strafe sein musste, sondern poetisch, persönlich und transzendent“. So Bradfields Wertschätzung für Victor Jara. Ich glaube, es ist noch mehr: Victor Jara ist wie Jesus oder Che Guevara oder Angela Davis bereit gewesen für ein besseres Leben der Andren das eigene zu opfern.
Victor Jaras Poesie lässt das eigentlich Menschliche in uns funkeln, die Schönheit und der Sinn an der Entwicklung der Menschheit zum Besseren einen Teil beizutragen. Die Schönheit, durch eigenes Tun die Erde ein Stück besser zu verlassen. Und ebenso, die Anklage der Menschenjäger im Sold der US-Konzerne. Für Victor Jara schloss Armut ein würdevolles Leben nicht aus, denn unter allen Bedingungen besang er das menschlich Mögliche.
Jaras Tribut
Victor Jara sang und sank in die Herzen der Menschen an der Seite der Unidad Popular, eine Koalition aus Sozialisten, Kommunisten und Humanisten für ein demokratisches und gerechtes Chile. In der Solidaritätsbewegung mit Chile nach dem Putsch waren seine Lieder Sammelbecken der Tränen, weltweit. Aber sie blieben Hymnen des Aufstehens in Chile. Als vor 10 Jahren die Studentenproteste hoch aufflammten, waren seine Lieder Begleiterinnen. Auch letztes Jahr bei den großen Protesten gegen Ungleichheit. Und in der musikmachenden Jugend, ob als Punk, Grunge oder Rock, wurden seine Hymnen in neue Welten transformiert. Wie jetzt mit „Even in Exile“. So übersetzte die Grunge-Rockband „Reincidentes“ sein Lied „Plegaria a un Labrador“ in eine wuchtige und schöne Rock-Version, die Neil Young alle Ehre machen würde.
Das Lied heißt „Gebet eines Bauern“ und beginnt mit den Worten „Bauer steh auf…“, um der Gebücktheit zu entkommen. Es ist geschrieben wie ein Gebet an Gott, und gesungen wie ein Choral an Gott. Wann und in welcher Interpretation ich dieses Lied gehört habe, dachte ich an meinen Großvater, Bauer, religiös und respektvoll. Eine Melodie, die zum Aufstehen anhebt. Das Gebot der Nächstenliebe kann gelebt werden, wenn es nicht nur die Nächsten sind.
Even in exile
Ein Lied auf “Even in Exile” handelt über die Maßnahme der Unidad Popular, wo jedes Kind täglich eine Flasche Milch frei erhielt – Thirty Thousand Milk Bottles“. In „Recuerda“ kommt eine Hymne für die Wahrheit und Wahrhaftigkeit. In „The Boy from a Plantation“ besingt er sich als Junge, von Ungerechtigkeit umringt, aber innerlich wachsend in die Schönheit der Musik. Oder „La Partida“, das über die wichtige Rolle der Partei als gemeinsam erkennender Organismus und Koordinator für die Befreiung handelt: Ennio Morricone lebt, La Partida beweist es! Die Texte um Victor Jara für diese Produktion stammen vom walisischen Autor Patrick Jones, die schwelgende, tragende Musik von Bradfield. Naja, und auch ein wenig von Victor Jara.
Als die Faschisten die demokratische gewählte Regierung mit Waffengewalt gesprengt haben, Tausende ermordet, Hunderttausend in Gefängnissen gequält wurden und den Kindern die Milch gestrichen wurde, schrieben die „Salzburger Nachrichten“, ein Medium der Katholischen Kirche: „Wer Allende betrauert, darf nicht vergessen, dass er ein Marxist war.“ Recuerda.
Die Manic Street Preachers hatten ein Nummer-Eins-Album in den britischen Musikcharts, fünf weitere Alben erreichten den zweiten Platz und zwei Singles kamen auf die Spitzenposition. Bei den Brit Awards 1996 und 1999 gewannen sie die beiden Preise Beste Band und Bestes Album. Sie widmeten Arthur Scargill, dem Gewerkschaftsvorsitzenden der britischen National Union of Mineworkers, einen Preis. Sie waren auch die erste westliche Band, die nach der kubanischen Revolution von 1959 ein Konzert auf Kuba gab. Deren Texte handeln um Liebe, Majakowski, sozialen Befreiungsversuche und historischen Niederlagen. Auch von Europa. Ein Lied wird von Bradfield und der Schauspielerin Nina Hoss gesungen: „Europa geht durch mich!“