Von den Küsten Afrikas aus, wo ich geboren wurde, sieht man, wobei die Distanz hilfreich ist, das Gesicht Europas besser, und man weiß, dass es nicht schön ist.
Albert Camus
Ouvertüre vor der Haustüre
Nackte Zahlen könnte ich aufzählen. Etwa, dass seit 2014 über 20.000 Menschen auf der Flucht nach Europa gestorben sind. Oder, dass seit 2017 rund 39.000 Schutzsuchende von der sogenannten libyschen Küstenwache nach Libyen, wo Folter, Vergewaltigungen und Tod drohen, verschleppt wurden.
Oder unzählige Bilder könnte ich mit euch teilen, etwa von jenen Leichen, die seit Tagen im Mittelmeer treiben, ohne dass diese geborgen und angemessen bestattet würden. Oder von Berichten erzählen, etwa von Giulia Tranchina. Sie war im Kontakt mit einem jener Schutzsuchenden, die am 22. Juli 2020 von der sogenannten libyschen Küstenwache in das Bürgerkriegsland Libyen verschleppt wurden, im Auftrag, koordiniert und finanziert von der EU.
Es müsste natürlich auch von den Entscheidungen europäischer Behörden erzählt werden, die seit Jahren Schiffe ziviler Seenotrettung kriminalisieren. Jüngst etwa im Fall der Sea Watch 3, die zur Zeit in Sizilien mit perfiden Begründungen (so seien etwa „zu viele Rettungsmittel an Bord gewesen“) festgehalten wird. Dann könnte auch von jenen Schiffen der Handelsschifffahrt und der Küstenwache gesprochen werden, die bei Menschen in Seenot einfach vorbeifahren.
Die Liste ist schier endlos. Die Initiative Alarm Phone versucht so gut es geht, Sprachrohr für Menschen in Seenot zu sein – indem sie in Notfällen erreichbar ist und diese an die zuständige Stellen weiterleitet. Dass letztere ihren Pflichten nicht ansatzweise nachkommen, auf Notrufe nicht reagieren und Menschen wissentlich Gefahren aussetzen oder sie sterben lassen, kann tagtäglich nachgelesen werden.
Selbstredend müsse eine solche Aufzählung mit dem Diktum von Sebastian Kurz beendet werden, nämlich, dass es beim „Schutz der Außengrenzen nicht ohne hässliche Bilder gehen werde.“
Recht hat er. Wenn Europa dichtmacht, wird es ohne diese Bilder nicht gehen.
Diese Ouvertüre mag vielleicht etwas plump sein oder überhaupt nach Agitation miefen. Weder das eine noch das andere ist mir ein Anliegen, allerdings geht es mir in diesen Zeilen vor allem darum, einen Kontrapunkt zu setzen und kräftig zu betonen, was täglich vor unserer Haustür passiert.
Sea Watch als Symbol
Abseits dieser Schreckensbilder gibt es glücklicherweise Initiativen, die sich gegen eben jene Zustände wehren. Sea Watch ist bloß eine, wenn auch medial wohl die präsenteste Gruppe, die unermüdlich betont, dass es sichere Fluchtwege braucht und Europas Burggraben mit Leichen befüllt wird, Leichen, die wir aber nicht sehen. Und nein, hier geht es nicht darum, Gut und Böse platt gegenüberzustellen, doch wird seit Jahren vor unseren, europäischen Küsten ein Massensterben, ein Massenmord, zugelassen und vorangetrieben. Diejenigen, die dagegen aufbegehren werden in ein schiefes Licht gerückt. Das darf so nicht sein.
Seit einigen Wochen befinde ich mich an Bord der Sea Watch 4, die unterwegs in Richtung SAR Zone, der Search and Rescue Zone vor der libyschen Küste, ist. Als sich Sea Watch und andere NGOs vor gut fünf Jahren gründeten, um zivile Seenotrettung in der Ägäis und im Mittelmeer zu betreiben, war das Ziel klar: Solange die Staaten ihrer Aufgabe nicht nachkommen, machen wir das! 2016 und 2017 wurden tausende Menschen auf der Flucht vor dem Ertrinken gerettet; parallel dazu wurden diese Organisationen kriminalisiert und ihrer Arbeit Steine in den Weg gelegt. Medialer Höhepunkt dann vor einem Jahr mit Carola Rackete.
An dieser Stelle könnten nun alle möglichen wirren Geschichten erzählt werden, mit welchen Finessen die europäischen Staaten es immer wieder zu verhindern wissen, sich ihrer Pflicht zur Seenotrettung entziehen oder Schiffe wie jene von Sea Watch zu behindern. Das ist alles fein säuberlich hier nachzulesen. Fakt ist: Zur Zeit wird die Sea Watch 3 mit fadenscheinigen Begründungen auf Sizilien davon abgehalten, Menschen vor dem Ertrinken zu retten.
Dass die Sea Watch 4 nun auf dem Weg zu ihrer ersten Mission ist, wurde unter anderem durch das zivilgesellschaftliche Bündnis United 4 Rescue ermöglicht. Dahinter stehen mehr als 550 Organisationen, Gruppen und Initiativen, die sich so solidarisch hinter die zivile Seenotrettung – und somit auch gegen den Kurs etwa der deutschen und österreichischen Bundesregierung – stellen. Vor allem die Evangelische Kirche Deutschland positioniert sich hier besonders klar und mit viel Anstand. Dankenswerter Weise versucht auch Jugend Eine Welt das Anliegen in Österreich bekannt zu machen und ist dem Bündnis beigetreten, natürlich versehen mit der Möglichkeit zu spenden. Über das Schiff und den Weg dahin gibt es eine sehr sehenswerte Doku bei ARD. Die Sea Watch 4 ist ein Symbol des Widerstandes und der Hoffnung. So plural die unterstützenden Organisationen hinter dem Schiff sind, so vielfältig ist auch die Crew – Aktivist*innen, nautisches Personal, ein medizinisches Team und Medienverantwortliche kommen aus unterschiedlichsten Kontexten und arbeiten teilweise ehrenamtlich unter einem Banner: Für das Recht zu gehen, für das Recht zu bleiben.
Der sichere Hafen
Wie tief geht eigentlich eine Grenze? Nach dem Völkerrecht bis zum Mittelpunkt der Erde. Nach der Entstehung der Nationalstaaten bis in die tiefsten Untiefen der menschlichen Seele. Nicht tiefer als ein Schützengraben. So tief wie ein Grab.
Robert Menasse
Letztere These von Robert Menasse erfährt im Burggraben der Festung Europa Bestätigung. Werden Leichen nicht an Land geschwemmt oder verfangen sich nicht in den Netzen von tunesischen Fischern, dann sinken sie wohl irgendwie bis zum Meeresgrund und markieren so das Ende ihrer Reise, ihres Lebens und jenes Bereiches, in dem sie sich kraft ihres Reisepass aufhalten dürfen.
Natürlich geht es darum, Menschen vor dem Ertrinken zu retten und natürlich geht es darum, Menschen auf der Flucht sichere Häfen anzubieten. Was jedoch an der Situation im Zentralen Mittelmeer so besonders ist, ist, dass sich dort die globalen Verhältnisse der Ausbeutung und unserer imperialen Lebensweise in gewisser Hinsicht verdichten. Welch Arroganz, welch Gehabe befugt uns Inhaber*innen eines europäischen Passes ohne bürokratische oder finanzielle Mühen in beinahe jedes Land der Welt zu reisen, nach Lust, nach Laune, während anderen – aus welchen Gründen auch immer – ebendas mit massiver Gewalt verwehrt bleibt?
Das Grab also als Grenzstein, als Demarkation menschlicher Hierarchie. Ja, von der afrikanischen Küste aus offenbart sich ein anderes Gesicht Europas. Diese Linie wollen wir durchkreuzen, weil sie ohnehin löchrig und in ihrem Wesen eigentlich nur Wasser ist.
Dennoch bleibt das Unternehmen aufwendigst: Das Schiff wird nur aufgrund massivster Anstrengungen zivilgesellschaftlicher Organisation aufbrechen können. Die Pandemie wird unsere Arbeit erschweren, aber nicht verunmöglichen. Nachdem der gesamten Crew negative Testergebnisse bescheinigt wurden, können wir sicher sein, gesund aufzubrechen. An Bord wird – sobald wir nach Rettungen Gäste an Bord haben – ein rigides Schutzkonzept eingehalten werden, dass uns und die Flüchtenden untereinander vor Ansteckungen schützen soll.
Im internationalen Seerecht ist vorgesehen, dass aus Seenot Gerettete ehest möglich in den nächsten sicheren Hafen, einen place of safety, gebracht werden müssen. Diese kann in Anbetracht der Gewalt in Nordafrika nur Europa sein. Doch eine Fratze Europas sieht das anders – jene, welche auf die hässlichen Bilder setzt, um die Widersprüche, welche unsere imperiale Lebensweise produziert, unter unsere Türmatte zu kehren.
Jakob Frühmann wuchs im Südburgenland auf und pendelt zwischen ebendort, Wien und der übrigen Welt. Neben seiner Tätigkeit als Lehrer schreibt er Unterschiedliches, fährt gern zur See und engagiert sich seit einigen Jahren bei Sea Watch.